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Gib's mir

Gib's mir

Titel: Gib's mir
Autoren: Kristina Lloyd
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recht großen Fisch in einem von Brightons zahlreichen kleinen Teichen bezeichnen. Ständig wird irgendwo mein Name erwähnt: «Mehr Informationen dazu von Beth unter der Telefonnummer …»; gelegentlich taucht auch mein Foto auf, gewöhnlich neben Interviews oder kleinen Neuigkeiten; permanent verteile ich überall irgendwelche Flyer, und jeder, der mal bei einer Veranstaltung war, wird sich daran erinnern, dass ich auf der Bühne war und die einzelnen Künstler angesagt habe, indem ich meiner Aufgabe als Zeremonienmeisterin nachgekommen bin.
    Das, vermutete ich, war auch der Grund, warum er wusste, wer ich bin.
    Er hatte mich schon länger beobachtet, als ich ursprünglich vermutet hatte.

    Nach jenem Abend sah ich ihn drei oder vier Tage lang nicht. Er war nicht zu Hause. Am Abend blieb sein Fenster dunkel, seine Jalousie war die ganze Zeit heruntergelassen, und es rührte sich absolut nichts. Er war fort, schloss ich daraus.
    Aber selbst unter diesen Bedingungen ließ jedes Telefonklingeln mein Herz einen Satz machen. Ich starrte auf das Telefon, kramte den Zettel hervor, auf dem ich seine Nummer notiert hatte, und mein Puls raste. Mehrere Male war ich so weit gewesen, die ersten fünf Stellen seiner Telefonnummer zu wählen, traute mich dann aber nicht, auch noch die sechste und letzte zu drücken. Vielleicht wäre er ja doch zu Hause. Vielleicht käme er gerade herein, während ich es klingeln ließ. Vielleicht hätte er einen Anrufbeantworter, und ich könnte ihm eine Nachricht hinterlassen. Mit welchem Inhalt? Wer bist du? Wie konntest du nur? Lass mich in Ruhe! Küss mich! Fick mich!
    Ich konnte ihn nicht aus meinem Kopf verbannen.
    Ich konnte aber auch jene letzte Nummer nicht drücken. Ich wusste, er würde dann wahrscheinlich das Knöpfchen für die Anrufnachverfolgung drücken; und er, der gesichtslose Mann, würde dann dem Staccato der näselnden Ansagestimme lauschen, die ihm mitteilte: «Der Anrufer hat eine – nicht zur Veröffentlichung – im Rahmen der Telefonauskunft – freigegebene Rufnummer, ist aber – ziemlich besessen von Ihnen. Der Anrufer hat – den Verstand verloren.»
    Von außen betrachtet, schien es mir gutzugehen. Ich war Beth Bradshaw, die ihrem ganz gewöhnlichen, hektischen Arbeitsalltag nachging. In meinem Innern jedoch war ich auf bemitleidenswerte Weise der Wirklichkeit entrückt. Die Erinnerung an unser am Fenster ausgetragenes Gefecht war immer in meinem Kopf, lebendig und doch irgendwie nebulös, wie ein verrückter Traum.
    Ich konnte es aber genauso wenig in der Traumabteilung meines Gehirns ablegen, wie ich es auf der Realitätsebene meines Kopfes unterbringen konnte. Stattdessen durchgeisterte es mich immer wieder, ruhelos und getrieben, und steckte mich mit seiner Merkwürdigkeit an. Wäre da nicht das Band mit der Aufzeichnung seiner Stimme gewesen – diesen leise und sanft gesprochenen Worten: «Was machst du, Beth? Besorgst du’s dir gerade?» –, hätte ich mich vielleicht zwingen können, das Ganze als Traum abzulegen unter der Rubrik «Oft genug geträumt, um daran verrückt zu werden – für alle Zeiten unter Verschluss halten». Aber ich hatte das Band; ich kannte es auswendig. Es war dingfest gemachte Realität.
    Ich kaufte mir eine Pflanze – nicht weil ich sie besonders schön fand, sondern weil sie sehr viel Sonne und Wasser, Liebe und Aufmerksamkeit brauchte. Ich stellte ein kleines Tischchen in meinen Erker, stellte meine neue Pflanze darauf und überschüttete sie mit Zuwendung.
    Nichts bewegte sich in der Wohnung gegenüber.
    Eines Nachmittags, als ich zu Hause arbeitete, ertönte die Klingel der Gegensprechanlage. Ich schoss hoch, da sie fast aggressiv klang und ich an den melodischen Ping-Pong-Ton einer Türglocke gewöhnt war. Und in meinem Kopf, in dem sich Teenager-Phantasien zu tummeln schienen, regte sich als erster Gedanke: Das ist er.
    Ich nahm den Hörer ab, ein kleines bisschen nervös: «Hallo?»
    «Hi, Beth», kam eine undeutliche Stimme aus der Gegensprechanlage. «Ich bin’s nur, Martin.»
    Nur Martin – wie süß, so übertrieben bescheiden.
    «Schätzchen!», trällerte ich fröhlich und drückte für ihn aufs Knöpfchen.
    Ich stand in der Tür zu meiner Wohnung, lächelte und hörte, wie er die Treppe heraufgestapft kam.
    «Hierher», rief ich. Augenblicke später bog Martin um die Ecke: ein zerzauster schwarzer Schopf, ein breites, pfiffiges Grinsen, ein kleiner, schäbiger Rucksack, den er locker über einer Schulter trug;
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