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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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voreiliges Urteil fällen«, unterbrach sie mich. »Mein Mandant – belassen wir es dabei, keinen seiner unzähligen Namen zu nennen – ist nicht der erste in diesem Amt. Er weiß selbst nicht, wer jene waren, die einst einen Hüter für die Menschheit eingesetzt haben. Vor einigen tausend Jahren, als der Ruf an ihn erging, war er ein Mensch wie Sie und ich, mit den gleichen Fehlern und Schwächen. Sein Vorgänger hat sich von ihm ablösen lassen, weil er sich selbst dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte. Und heute ergeht es meinem Mandanten so. Er kann nicht mehr. Er ist in einem goldenen Käfig, in seinem Elfenbeinturm, gefangen und ein Sklave seiner eigenen Macht. Er ist allwissend und allmächtig, aber er kann sein Wissen und seine Macht nicht zu seinem persönlichen Vorteil nutzen, er kann seine Mittel nur im Dienst der Menschheit gebrauchen. Und trotz allem ist es ihm nicht möglich, aus seinem Gefängnis auszubrechen, er ist unfrei und einsam. Es wäre schlimm genug, für die Dauer eines Menschenlebens ein solch verantwortungsvolles Amt ausfüllen zu müssen, aber für einen Unsterblichen wird diese Situation nach einigen tausend Jahren zu einer unerträglichen Belastung. Können Sie sich vorstellen, wie einem zumute ist, vor dem die Ewigkeit liegt, in der er nichts anderes tun kann, als in selbstloser Aufopferung das Schicksal von Milliarden zu lenken.«
    »Kann ich nicht«, warf ich schnell ein, um ihren Redefluß zu stoppen. »Bei allem Wohlwollen, Paula, und ohne darüber diskutieren zu wollen, ob es Blödsinn ist, was Sie da verzapfen, kann ich für Ihren Gott kein Mitleid haben. Ich würde sofort mit ihm tauschen und bestimmt einen Weg finden, um aus dieser Position einige Vorteile für mich herauszuschinden. Ich würde mir mein ewiges Leben schon zu versüßen wissen.«
    »Er ist kein Gott«, widersprach sie mir, »die Menschen haben ihn nur dazu erhoben. Aber statt ihn um Beistand zu bitten, sollten wir ihm unser Mitgefühl geben. Er kann ohnehin auf keine Einzelschicksale Rücksicht nehmen, sondern darf nur auf die Menschheit als Ganzes Einfluß nehmen. Das ist seine Aufgabe, der er sich nicht entziehen kann, denn er unterliegt dem Zwang, das Beste aus der Reihe gegebener Möglichkeiten für seine Schützlinge herausholen zu müssen. Daß er manchmal Kriege und Katastrophen nicht verhindert, das liegt einfach daran, daß sie auf der Palette der angebotenen Möglichkeiten wahrscheinlich das geringere Übel sind. Aber davon, welches Unheil er andererseits von der Menschheit abgewendet hat, erfährt kein Mensch. Sie sehen, er bekommt nicht einmal die ihm zustehende Anerkennung für sein Wirken. Dabei ist er ein Mensch wie jeder andere. Und wie sehr er auch mit der Aufgabe gewachsen ist, obwohl er sich bemüht hat, in ihr aufzugehen und das Allgemeinwohl vor das eigene zu stellen, so ist er schließlich doch daran zerbrochen. Er hat mich dazu auserwählt, einen Nachfolger für ihn zu finden. Er wünscht sich nur noch einen raschen Tod und tauscht dagegen seine multiple Unsterblichkeit.«
    Die von ihr angeschnittene Problematik ignorierend, hakte ich an diesem Punkt ein. Ich sagte:
    »Das ist doch ein Widerspruch, Paula. Einerseits behaupten Sie, daß Ihr Allmächtiger in seinem Wächterturm eingeschlossen ist, im nächsten Atemzug aber behaupten Sie, daß er sie kontaktiert hat. Demnach hat er also doch einen Draht zu den Menschen?«
    »Ich bin sein Medium«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Es war nicht leicht für ihn, sich auf diese geistige Art und Weise Zugang zu einem Menschen zu verschaffen. Er hat es schon oft versucht und immer wieder Schiffbruch damit erlitten. Selbst wenn es ihm gelang, sich einem Menschen bemerkbar zu machen, so führte das nicht zum gewünschten Erfolg. Die Kontaktpersonen haben ihn daraufhin nur noch mehr mystifiziert und sich in einen Wunderglauben verstiegen, anstatt die Realität anzuerkennen. Ich bin das erste Medium, das ihn richtig einstuft und ihm den zustehenden Stellenwert gibt.«
    Man hätte auch sagen können, daß sie verrückt sei und einem religiösen Wahn verfallen. So etwas mochte es geben: Mitleid mit dem Allmächtigen, der als einsamer Outsider Mitgefühl und Gnade verdient. Erlöse ihn von seinen Übeln, die da sind: Unsterblichkeit und schier unbeschränkte Macht und uneingeschränktes Wissen. Es gehörte schon eine gewisse Vorstellungskraft dazu, ihn als Manager des Schicksals zu sehen, der von irgendwelchen Überwesen in Amt und Würden
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