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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Grünstreifen, der die Fahrbahnen trennt, steht ein großes, gleichschenkliges Dreieck, blau, die Spitze in den Nachthimmel, und zwischen den beiden Schenkeln führt die schmale Brücke hindurch, freischwebend von Stahlseilen gehalten, die an der Spitze des Dreiecks befestigt sind. Die Wälder und Wiesen des Volkshains scheinen sich auf der anderen Seite noch weiter hinzuziehen, bis ins tiefste Brandenburg, wo in der national befreiten Zone Spreewald die braunen Separatisten regieren, und bis in die dünn besiedelten Urwälder Ostpolens, wo die Wisente grasen.
    Die Brücke schwankt im aufkommenden Wind, unter mir der Strom der Autos, aus der Stadt und in die Stadt, 20 Uhr 15 ,
Tatortzeit
, da war doch was, aber das geht mir nicht aus dem Kopf bzw. in den Kopf, was da war, mit dem Kopf, den ich doch suche,
Undercover
, mit jedem Schnitt und jeder Zeitzone mich dem Ort nähernd, der mir aber nicht materiell zu sein scheint, ob die
Verwesung
schon eingesetzt hat,
der Schwanz stinkt immer vom Fisch her, vor allem am Kopf
, 20 Uhr 17 , ich verlasse die Brücke, weil die Stahlseile knarren, als ständen sie unter kaum zu ertragender
Spannung, kurz vorm Reißen, und wie eine sehr lange Peitsche schwingt tatsächlich eins der Stahlseile laut knallend mitten in den Verkehr und zerteilt buntes Metall wie Butter.
    Ich laufe auf dem Fußweg neben der Bundesallee. Über den Bäumen leuchtet das
Deutschlandradio
, Strahlungen fächerförmig in den Nachthimmel,
mit dem folgenden Ton ist es 20 Uhr 20
, ein grün gelb rotes Blinken fasziniert mich, ein Verkehrsgarten direkt neben dem Fußweg hinter einem Gitterzaun, ein Junge fährt ganz alleine auf einem Fahrrad mit Stützrädern durch diese kleinen Straßen, hält an den Ampeln, überquert die Kreuzungen,
Vorfahrt beachten, Einbahnstraße
, die Ampeln schalten im Sekundentakt, und er radelt immer schneller durch dieses Labyrinth, er fährt sogar mit Licht, ich höre das Surren des Dynamos und spüre, wie der Wind an meinem Mantel reißt, der Junge zieht einen Lichtschweif hinter sich her, so schnell ist er geworden, bald hat er die Schaltphase der Ampel überholt und kann in die nächste eintreten, »Vorsicht!«, will ich r ufen, HELMI – MEHR SCHUTZ UND SICHERHEIT FÜR KINDER , steht auf einem Schild am Zaun, Helmi ist ein lustiger Bursche mit einem roten Herz auf seinem kugeligen Körper, roter Helm und rote Schuhe, er hat eine Knollnase und schwarze Knopfaugen, HELMI KOMMT – HELMI WARNT , und ich rieche verbrannten Gummi, der Junge kann wohl nicht aufhören, immer schneller und schneller zu radeln, ist gefangen zwischen den Ampelphasen und ruft mit hoher Stimme um Hilfe, aber ich laufe weiter die Bundesallee entlang, wollen wir Helmi mal nicht stören, lieber nicht einmischen, Helmis Behörde wird das schon regeln, nicht dass er arbeitslos wird, wenn ich ihm ins Handwerk pfusche, und was soll so ein lustiger Kerl wie
der Helmi auf dem Arbeitsamt, da verliert er nur seine Lebensfreude, und das wollen wir nicht, gelle?
    Und auf der Bundesallee reißt mich der Wind fort, zerrt meine Zeitungen aus der Manteltasche und verweht sie zwischen den Autos und den Büschen und den Betonsäulen der Hochstraßen, die plötzlich vor uns auftauchen und die Fläche zerschneiden, Häuser nur noch an den Rändern. Da wirbeln die Blätter durch das Chaos, nur der
Focus
ist zu schwer und liegt im Rinnstein in einem großen Haufen Hundescheiße und flattert mit den Seiten wie ein Fächer, und die Lichter der Autoscheinwerfer erfassen die verwehten Schlagzeilen, DIE VERNICHTUNG DES WES - TENS , während ich an einer Ampel die Bundesallee DIE SCHWARZE HOFFNUNG überquere, denn ich sehe
etwas
, das mich anzieht, den Kopf UNTERSCHICHTSEINWANDE - RUNG und meine Suche kurz vergessen lässt, ISRAELI - SCHE AGENTEN KONTROLLIEREN FLUGGÄSTE auf dieser großen Fläche, die ich durchquere, DIE WEISSE WELT - HERRSCHAFT GEHT ZU ENDE , Landnahme.

VI
    Drei Schornsteine. Wuchtig, gedrungen, dunkel, ein, zwei Kilometer entfernt, schlecht zu schätzen, am Horizont hinter den Hochstraßen und Häusern. Nebel kommt auf. Oder ist das der Rauch aus den Schloten? Gehören sie zu einer Fabrik? Ein gewaltiges Krematorium? Führen die Steinröhren bis tief in den Untergrund, wo die uralten Stadtväter hausen und auf Nahrung warten? Von ferne höre ich Geräusche, ein dumpfes Stampfen, WUMM KLAMM , WUMM KLAMM , sind das die Züge, die von schwarzen, dampfumhüllten
Lokomotiven langsam in Bewegung versetzt werden?
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