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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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sind, zu schätzen, Güterbahnhof Wilmersdorf, auf der Suche nach dem Kopf, der
Zustand
ist entscheidend, und auf einmal der Hirsch, golden glänzend im Licht des elektrischen Abends.

IV
    Ich stehe auf einer kleinen Brücke, die über ein Wasser führt, das nicht fließt, Bäume und Wiesen drum herum, Volkshain Schöneberg, schmale Wege mit Laternen, Enten hocken in Gruppen auf dem Ufergras, Lichter bewegen sich übers Wasser und erfassen verirrte Enten, die sich von
der Gruppe entfernt haben, und der Hirsch dahinter hoch auf einem Sockel, den die Dunkelheit schluckt, so dass das Tier über den Wipfeln schwebt, ruhig.
    Ein paar Leute mit Hunden erkenne ich schemenhaft auf den Wegen des Volkshains Schöneberg, die Schatten der Hunde vor ihnen und auf den Wiesen, leinenlos, das Bellen wird lauter, Enten flattern ins Wasser, zwei, drei Schäferhunde stehen breitbeinig direkt unter mir und der Brücke, starren und knurren zu mir hoch, die Reißzähne zum Reißen gebleckt, der goldene Hirsch verschwindet zwischen den Wipfeln, als ich mich umdrehe, und das wütende Bellen dieser drei Hunde im Rücken, eile ich über die Brücke, und dabei wachsen die Schäferhunde in meinem Kopf, nehmen die Gestalt der Höllenhunde im Märchen an, die drei Töpfe mit Münzen bewachen, und ist dann der goldene Hirsch der Wächter der Idylle, die nicht mehr existiert, nicht mal im Märchen, »Wo hast du den Scheffel Geld her?«, fragt der große Klaus den kleinen Klaus verwundert, »Hab meine tote Großmutter verkauft«, antwortet der, und der große Klaus geht heim und erschlägt seine Großmutter mit der Axt und schafft sie in die Stadt, um sie zu einem Scheffel Geld zu machen.
    Ein Stück hinter der Brücke steht das kleine, eckige Gebäude mit dem kleinen, eckigen Turm, auf dem die weißrote Fahne mit dem schwarzen Bären weht, Rathaus Schöneberg,
Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!
, die Fahne knattert im Wind,
Ich bin ein Bär!
, da wehen mir Stimmen und Zeiten und Lieder entgegen, dass mir der Atem gefriert, und ich stemme mich gegen den eisigen Strom, sehe schon die Lichter der Ratskellers vor mir, kann mich aber im letzten Augenblick zur Seite werfen, ZING DING DING pfeifen die Projektile der Sniper durch Zeit und Raum, ich
sehe das Blinken der Zielfernrohre auf den Dächern, »Das muss eine Verwechslung sein!«, will ich schreien, die wollen sicher den Bären erlegen und vielleicht auch den goldenen Hirsch mit einem doppelten Blattschuss, direkt ins offene Cabrio, die Sniper haben lange Bin-Laden-Bärte, die in die Dachrinnen hängen, DING DING ZING zwitschern die Projektile durch Berlin, Stadtteil Schöneberg, zwitschern vorbei an Fressbuden, Currywürsten aus Menschenfleisch, Bundestag, Reichsadler, durchschlagen die Glasscheiben des Hauptbahnhofes, Scherben regnen auf die Reisenden und werden rot, streifen die Kuppel der großen Moschee in Kreuzberg, durchtrennen die Beinarterie eines U-Bahntreters, der gerade mit seinem Fuß den Kopf eines am Boden liegenden Mannes anvisiert, hinterlassen eine blutige Schneise in dem Volkssturm auf die Schnäppchen des Mediamarktes am Alexanderplatz, das Metall der Projektile bohrt sich durch Drogengeld in Neukölln, das schon bald in Charlottenburg die Wände tapezieren wird, Ströbele setzt sich einen
Schuss
gegen das Altern, Nummer 68 um genau zu sein,
gold
rot schwarz
grün
leuchten die Farben der Apokalypse über der Stadt, ein gewaltiger Arc de Triomphe ist am Horizont zu sehen, als würde er dort schon seit Tausenden von Jahren stehen, und ich renne und denke: der Hirsch, die Hunde und der Bär, damit hat alles begonnen, als hätte der Hauptstadtzoo Ausgang in dieser Nacht, deren Abend angebrochen ist,
der Fozzie-Bär, der Fozzie-Bär, der hat es schwer, der findet keine Fotzen mehr,
und ich renne ... Volkshain Schöneberg, das Bellen der Hunde ist weit entfernt jetzt, die Meute verschwindet Richtung Osten und ich in den künstlichen Wäldern.

V
    Die Bundesallee. Ich stehe vor der seltsamen Konstruktion einer Fußgängerbrücke, die über diese gewaltige Straßenschneise hinwegführt. Hinter mir der Volkshain, durch den ich die Ewigkeit einer Nacht tausendundeinmal geirrt bin, vorbei an den Regimentern und Truppen, die ins Badische des Jahres 1849 ziehen, um dort die Demokraten zu erschlagen im Auftrag des Führers Wilhelm Eins, und dem silbern im Mondlicht glänzenden U-Boot des BND , das plötzlich aus einem der Teiche hervorbrach.
    In der Mitte der Bundesallee, auf einem
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