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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Güterbahnhof Wilmersdorf, die Rampen voll mit Menschen und Waren, WUMM KLAMM , WUMM KLAMM , der Kopf muss ganz nah sein, und das Stampfen hämmert in
meinem
Schädel, der mir zum Glück noch heil auf den Schultern sitzt, HEIL DIR KOPF , DIE TODGEWEIHTEN GRÜSSEN DICH , aber ich sehe nur diese drei Schornsteine, rote Lichter direkt unterm Rauch, damit die Luftschiffe nicht zerschellen und brennend auf die Stadt stürzen. Die Ebene vor mir verbreitert sich zunehmend, wird von Gräben durchschnitten, in denen S-Bahnen fahren, das Grollen der U-Bahnen höre ich aus Gullydeckeln und den Öffnungen der Abwasserrohre, aus denen rotbraune Flüssigkeit auf den Rinnstein tropft, auch über uns Ebenen, Schnellstraßen, Brücken, die auf Betonsockeln ruhen, an die sich kleine Imbissbuden quetschen, INGES WURSTECK , fast gehen sie mir verloren, die drei rotgekrönten Säulen, die dieses Chaos aus Bewegung und Material zu beherrschen scheinen, stoisch zeigen sie dem Himmel und denen, die von oben gucken können, Zeit-und-Raum-Beobachter, ihre schwarzen Löcher,
ich bin so alt wie das Licht
...
wie die anderen Wächter des Universums auch
...
Jahrtausend um Jahrtausend haben wir nur einem Ziel gedient
...
der Herstellung der Ordnung mit unserer Wachbehörde
,
dem Green Lantern Corps
, ein Comic-Heft liegt aufgeschlagen im Rinnstein WUMM KLAMM , WUMM KLAMM , Quietschen, Brummen, Kreischen, Hupen, Scharren und Reiben, Mechanik, Elektronik, Gummi Metall Stein, und als ich fast glaube, mich in dieser pulsierenden Nacht zu verlieren, der Mitternachtsfleischzug donnert durch mein Hirn und durch meine Nervenbahnen, ist mit einem Mal, mit einer winzigen, kaum wahrzunehmenden Bewegung einer Zehntausendstelsekunde, Ruhe.

VII
    Die Bahnen des Lichts auf den Straßen, lautlos. Die großen Maschinen am Himmel gleiten so still wie Segelflieger. Das plötzliche Schweigen der Stadt gibt mir Zeit zu denken. Was soll ich hier finden, Güterbahnhof Wilmersdorf, die Scheinwerfer des Taxis beleuchten den Boden, und der Fahrer bleibt nur, weil ein Fünfziger vor ihm auf dem Armaturenbrett liegt. Oder habe ich ihn erwürgt, erschlagen und erstochen, Bleistift in die Schlagader, habe ich ihm eine Plastiktüte von hinten über den Kopf gezogen oder ein vorbereitetes Tau um seinen Hals geschlungen und seinen furchtbaren zwanzigminütigen Todeskampf mit lautlosen Schreien überstanden? November, wenn die Bienen sterben. Ich versuche, die Lücken zu füllen, wühle in der Erde, wo standen diese drei Säulen, aus deren Öffnungen der Qualm wie Nebel in die Stadt zog?, also wo genau?, Schöneberg ist das Zentrum, das Portal, der Kopf, der mir den
Zustand
zeigen soll. Umzäuntes Areal. Stacheldraht. Verschlossene Tore. Flache Hallen. Was wird hier produziert? Oder was zu Asche verbrannt? Das Land hat sich verändert. Manches hat es immer schon gegeben: Ein Mann erschlägt einen Mann,
der große und der kleine Klaus
, keiner weiß, warum, zerstückelt ihn, Teile landen in der Tiefkühltruhe, Teile verschwinden, und der Kopf...
    Die Halle ist menschenleer. Keine Arbeitsgeräte, keine Werkbänke, keine Fließbänder, keine Maschinen. Nur Monitore an den Wänden, Flachbildschirme, deren mattes Leuchten mich wie ein Ring umschließt. Und nur Zahlen auf dem Weiß, endlose Zahlenreihen, die sich verändern, ein stetiges Fließen, Kommastellen verrücken, Millionen und Pi. Durch die großen Oberlichter kann ich die drei
Schornsteine über mir erkennen. Mir ist, als hätte ich das alles schon erlebt. Oder gesehen zumindest. Soll die Halle die Sockel schützen, oder gehören die Schornsteine zu einem Kraftwerk
weiter unten
, das den Monitoren Energie liefert? Der Zugang war neben einer Imbissbude unter einer der Hochstraßen. INGES WURSTECK . Keine Ecke. Das Dixiklo fuhr ratternd mit mir in die Tiefe. Ich muss zurück zum Anfang. Haare reißen, und ich greife nach. Berlin, Ende November 2009 , es ist kalt geworden. Mein Atem gefriert in der Halle, aus der die Schornsteine in den Himmel wachsen, die roten Lampen warnen dort oben nicht nur die Flugobjekte, bekannt oder unbekannt. Meine Schritte machen keine Geräusche. Ich erkenne jetzt große Türen in jedem der Sockel. Wozu das Ganze?, denke ich. Nichts mehr ergibt einen Sinn. Wo ist der Kopf? Wehen die Buchstaben immer noch über die Bundesallee? Wer betreibt diesen Komplex und die Monitore am Rand des alten Zentrums der Hauptstadt?
    Ich schlage mit beiden Fäusten auf die Erde, die gefroren ist, so hart, dass meine
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