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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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durch diese obere Ebene des Bahnhofs
Berlin Südkreuz, und ich breche ab und springe zwischen den sich schließenden Türen hindurch ins Innere der Röhre. Mein Schal klemmt fest. Ich lehne mit dem Rücken an der Tür, jemand zieht von draußen an meinem Schal, während wir fahren, die Meute ist mir scheinbar dicht auf den Fersen,
irgendwer und irgendwas
, und während es mich immer fester mit dem Rücken an die kalte Tür presst und ich nach Luft ringe, schaue ich ins Innere, wo sie dicht an dicht sitzen und auf den Boden starren, da spürst du die Angst durch diese Röhre wehen, als wären alle Fenster aufgerissen, und die Kontrolleure donnern mit ihren Stiefeln und in kleinen Gruppen durch die Waggons und immer näher an mich ran, aber ich habe ein reines Gewissen, vertraue auf die neue Macht,
Zone
ABC steht auf meinem Ticket,
120 Minuten
, ich bin auf dem richtigen Weg, das fühle ich, und keine Angst, der Kopf. Schöneberg. Mein Schal ist nur etwas ramponiert, ein gelber, langer Fingernagel steckt zwischen den Wollmaschen, ich ziehe ihn raus und betrete den Bahnsteig.

III
    Ein dunkler verwinkelter Bahnhof. Schwarze Steine. Aus einem kleinen Kiosk zieht beißender Qualm, die S- und U-Bahnen beliefern die uralten Landesväter, die tief unterm Bundestag wohnen, Schöneberg scheint eins der Portale zu sein. Die Schienen führen aus der Halle über eine Brücke und verschwinden zwischen den Giebeln der Häuser, das Gerippe eines Gasometers steht wie ein großes, kreisrundes Baugerüst um einen unsichtbaren Turm ein Stück hinter der Brücke, auf den oberen Streben des Gerüsts
sitzen große Vögel, ich laufe über die schiefen Treppenstufen in die untere Ebene, wo der Ausgang ist, auch hier fahren Züge und verschwinden in den Tunneln. Ich stehe an einer breiten Straße, über die die Brücke führt, laufe in die andere Richtung, von ihr weg, spüre, dass er mich leitet, der Kopf.
    666666 – Sexfilmcenter, DVD -Verleihe, CD -ROMs, Hefte, Comics, Ankauf, Tausch. Ich stehe vor der Scheibe, durch die man nicht blicken kann. VIDEOS . Der Schriftzug aus kleinen blinkenden Lämpchen, die einen Buchstaben nach dem anderen rot aufleuchten lassen. V-I-D-E-O-S. DVD
ab 3  Euro. Bizarr, SM , Gay, Thais
. Ein Mann kommt aus der Tür. Er schiebt sich seinen Rucksack zurecht, reiche Beute, wie es scheint, und läuft an mir vorbei.
    Er trägt eine große Brille, und seine lockigen Haare fallen bis über die Schultern seiner Jeansjacke. Schöner Skalp.
Sporternährung, www.bodystar, Schmökerkiste, Pension/ Ferienwohnung
. Der Verkehr fließt, Rücklichter, Scheinwerfer, Ampeln grün, Ampeln gelb, es ist fast dunkel jetzt, rot. Im
Bierhaus Schöneberg
sitzen drei Männer mit einer Frau, die auch wie ein Mann aussieht. DIE UNTERSCHICHT VER - TRINKT DAS GELD DER KINDER . Ich suche einen Laden, der Stadtpläne verkauft. Ein Zeitungsladen neben einer Nachtbar. Blinkendes Herz, rotes Fenster, Herzdame, wie im Kartenspiel, nur größer,
Unterhaltung,
der Kopf kann nicht weit sein, »wir führen keine Stadtpläne«, MARGOT HONECKER : DIE WENDE WAR VERRAT !, Ambulanter Pflegedienst,
Pflege mit Herz!
, noch eine Nachtbar,
Open End!
, die Herzen blinken in dieser großen Straße, grün gelb rot, ein dicker Mann schläft in dem Sessel im Vorraum des Pflegedienstes, eine Frau tätschelt ihm die Beine und liest einhändig Zeitung dabei, zwei Männer schwanken ins
Bierhaus
, der kleine Klaus zum großen Klaus: »Ja, du hast mich in den Fluss geschmissen, und ich wär’ auch ertrunken in dem Sack, aber da wohnt ein König unten auf dem Grund, der hat mich gerettet und reich beschenkt und hat auch eine schöne Tochter«, DAS WOHNZIMMER DES GRAUENS , »wozu brauch ich den Blick auf die Spree?«, hundert Autos hupen im Chor; ich entferne mich von der großen Straße, die Peripherie und Zentrum zugleich ist, ein Grenzfluss,
alle gucken auf das brennende Schiff, nur nicht Klaus, der guckt raus
, kleine graue Reihenhäuser, die Straßen heißen nach Städten, kleine Städte sind das meist, hier muss auch irgendwo die Merseburger Straße sein, TATORT STUDEN - TENBUDE , aber Studenten sehe ich keine in diesen immer gleicher aussehenden Nebenstraßen, die mich immer weiter weg vom Grenzfluss und seinem schwarzen Rauschen, grün gelb rot, bringen; alte Damen mit Hüten kommen mir entgegen, mittelalte Männer mit Wollmützen und Kinderwagen, Rentner mit Stock und Lederhut, ich versuche, den Verlauf der Bahngleise, die da irgendwo hinter den Häusern
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