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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Hund zu, gar nicht so lange her kann das sein, denn da kippte er manchmal auch schon um beim Kacken, weil die Hinterläufe nicht mehr stabil blieben in seiner Hockstellung, da schoss einer der Russen mit einer Knarre aus dem Fenster. Wahrscheinlich nur eine Schreckschusspistole, aber wer weiß das schon.
Ich
weiß, dass das einer der Russen war, weil er laut fluchte dazu. Als wenn es nicht reichen würde, nachts rumzuballern, da müssen auch noch ein paar deftige Flüche gebrüllt werden. Und die Bullen gerufen hat natürlich keiner, ich mach so was aus Prinzip nicht, da muss schon einer Amok laufen, und zwar richtig.
    Und nun steh ich mit dem alten, müden Hund vor meiner Tür und weiß nicht, wie reinkommen, 2 Uhr 15 inzwischen. Ich ziehe den Abtreter von der Türschwelle weg an die Wand gegenüber und sage dem Hund, er soll sich dort drauflegen. Er dreht und wendet sich, bevor er sich niederlegt, steht dann wieder auf und platziert sein Hinterteil erst da und dann wieder am anderen Ende meines großen Fußabtreters, wenigstens muss er nicht auf den blanken Fliesen liegen, wie jeder Alte will er es weich und warm für seine morschen Knochen. Er liegt direkt unter dem Kasten mit den Stromzählern. Wie oft hat da einer von den Stadtwerken
gestanden und mir oder jemand anderem im Haus den Saft abgedreht. Wenn ich jetzt zu spät bezahle, weil ich auf Reisen bin oder mich über Wochen der Außenwelt verweigere und schreibe oder auf dem Bett liege und die Geschichten in mir arbeiten lasse, sind sie sehr freundlich, wenn sie kommen, »Ja, Herr Meyer, selbstverständlich kann ich nachher noch mal kommen, wenn Sie auf der Bank waren, welche Zeit wäre Ihnen denn recht?«; vor vier fünf, sechs Jahren haben sie ohne Kommentar den Schalter umgelegt und verplombt, wenn ich nicht flüssig war, um sie auszuzahlen. Und wenn ich dann, weil jeder Mensch ja Strom braucht, auch wenn er pleite ist, diese Plombe mit Hilfe von etwas Schmieröl vom Schalter flutschen ließ, kamen sie noch mal und bauten eine Sicherung aus dem Innenleben dieses Zählerkastens, die konnt’ ich nicht so einfach überbrücken, da ging’s um zu viel Volt. Einmal wachte ich auf, hatte wohl das Klingeln nicht gehört, stand da tatsächlich so ein Strompolizist meiner Wohnungstür direkt gegenüber und steckte seinen Kopf in den Kasten und war am Fummeln und Schrauben, und als ich meine Tür aufmache, um zu fragen, was das verdammt nochmal soll, drückt sich der Hund an mir vorbei und springt dem Strompolizisten direkt ins Kreuz, dass der hoch und schrill aufschreit vor Angst.
    Aber ich sagte ja schon, dass er nur neugierig war und ihn begrüßen wollte auf seine Art.
    Ich drücke den rechten Türflügel, so weit es geht, mit der Schulter nach innen Richtung Flur. In dem entstehenden Spalt wird der kleine Hebel sichtbar, unter dem der Korken sitzt. Ich drücke stärker und versuche, den Spalt zu verbreitern. Dann versuche ich, mit der Hand hineinzufahren und irgendwie den Korken zu greifen. Aber sobald
ich meinen Körper, und damit den Druck, etwas verlagere, wird der Spalt zu klein für meine Finger.
    Also muss eine Art Keil her. Ich gehe wieder auf den Hof. Ich finde ein paar Äste vom Kirschbaum, der auch alt wird. Kirschen trägt er noch im Sommer, aber es werden weniger von Jahr zu Jahr. Im letzten Sommer lagen Hunderte Kirschen auf der Wiese und um den Baum, der Hund aß täglich die vergorenen Früchte, wurde alkoholsüchtig, stand schwankend in der Sonne und glotzte mich dümmlich an mit leerem Blick und suchte noch im Herbst, als alle Früchte längst verschwunden waren, verzweifelt den Boden nach Nachschub ab. Ich breche mir ein paar Holzstücke zurecht, muss dabei aufpassen, nicht in einen der Scheißhaufen auf der Wiese und zwischen den kleinen Büschen zu treten. Die werden noch den Boden düngen, wenn der Hund längst verschwunden ist. Ich gehe rein. Wieder den Körper gegen die Tür und das stärkste Aststück in den Spalt gerammt. Da steckt es dann also, und ich kann den kleinen Hebel und den Korken darunter sehen. Der Spalt ist aber noch nicht groß genug, um mit der ganzen Hand reingreifen zu können, und ich brauche eine ganze Weile, um ein zweites Stück Holz zwischen die beiden Flügel zu schieben, und weil das immer noch nicht reicht, ein drittes. Ich schwitze schon ziemlich und ziehe das Hemd aus, arbeite im Unterhemd weiter. Jetzt komme ich an den Korken, der Spalt ist vielleicht zwei Finger breit, und mit diesen zwei Fingern versuche
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