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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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ich, den Korken zu greifen. Und dann schreie ich wie ein Vieh. Weil doch tatsächlich einer meiner provisorischen Keile nachgibt und sich nicht im Spalt hält, und die anderen beiden schließen sich an, bevor ich meine Finger rauskriege. Der Hund schaut mich etwas dümmlich, aber doch mehr verwundert mit geneigtem
Kopf und dunklen Augen an, wie ich da so schreie und meine Finger aus der hölzernen Umklammerung reiße. Ich renne wieder auf den Hof, kein Ast zu finden, der stark genug ist, ich gehe wieder rein, renne schweißüberströmt in den Keller, der zum Glück offen ist, finde zwischen den Besen und Schaufeln des Hausmeisters einen abgebrochen Holzstiel, von einer Schaufel oder einem Spaten. Wieder hoch zur Tür, ich hebele erst unten und ziehe dort den Metallstift aus seiner Verankerung, aber das Sperrsystem oben hält die Flügel zusammen, sooft ich mich auch gegen sie werfe, jetzt weiß ich, dass ich ein spitzes Werkzeug brauche, einen Schraubenzieher oder eine Ahle, um den Korken aus der Öffnung unter dem Hebel förmlich herauszustechen, denn fest steckt er und blockiert.
    Ich renne noch mal in den Keller runter, finde aber weder einen Schraubenzieher noch ein ähnlich geeignetes Werkzeug. Der Schweiß läuft mir in die Augen. Es ist jetzt fast 3 Uhr. Ich überlege, wen ich rausklingeln kann im Haus. Einen Schraubenzieher hat doch eigentlich jeder. Viele Möglichkeiten habe ich nicht. Die beiden ganz oben? Links der lange dünne, fast zahnlose Mann, rechts die dicke Frau. Vielleicht sind sie auch gerade zusammen in einer Wohnung, Genaueres weiß ich nicht über ihr Verhältnis, anfangs dachte ich noch, sie sind Bruder und Schwester, will’s eigentlich gar nicht wissen und beschließe, sie schlafen zu lassen. Sind nette Leute, komme gut mit ihnen aus, auch wenn er Lok-Fan ist. Er hat einen Lok-Aufkleber auf seinem Briefkasten, der Chemie-Aufkleber auf meinem Briefkasten ist mindestens doppelt so groß. Wenn bei mir jemand um 3 Uhr nachts klingelt, ich würde nicht öffnen, bzw. so tun, als wäre ich nicht da. Das Blöde am Erdgeschoss,
Hochparterre
, ist, dass man das Licht sieht. Eine Zeitlang
klingelte Trinker-Thilo regelmäßig, wenn er mein Licht in der Nacht sah. Ein paar Meter die Straße runter ist eine Tankstelle. Das war sein Nachschubweg, viele Jahre lang. Und er war nicht der Einzige. Vor allem in den Sommernächten ziehen endlose Trinkerkolonnen an meinen Fenstern vorbei. Deswegen liebe ich die langen und kalten Winter, die es kaum noch gibt.
    Ich könnte bei Ali klingeln. Der ist ein sehr gastfreundlicher Mann, würde mir sicher einen Schraubenzieher leihen. Bis vor zwei, drei Jahren war ich oft bei ihm zu Besuch. In meine Wohnung kam er nicht gern, wegen des Hundes. Hunde sind unreine Tiere, sagte er mir. Wir haben uns trotzdem ganz gut verstanden. Wir haben Wasserpfeife geraucht, Tee getrunken und über den Islam und Gott und die Frauen geredet. Ali ist strenggläubig, ich würde das zumindest so nennen. In seinem Wohnzimmer hängen große Wandteppiche mit den Gesichtern verschiedener Heiliger, Imam Ali, Ajatollah Chomeini und ein paar andere, deren Namen ich vergessen habe. Einige Male, aber das ist jetzt auch schon fünf, sechs Jahre her, bin ich mit ihm in die Moschee gegangen. Nicht, weil er mich bekehrt hat zum wahren Glauben, sondern weil ich noch nie in einer Moschee war und dachte, in den Zeiten des islamistischen Terrors, der Islamphobien und der Islamisierung Europas, Afrikas und der Welt muss man einmal in so einem
Raum
gewesen sein, um das Geheimnis dieser Gottesportale und der dortigen
Gruppentranszendenz
zu ergründen. Aber ich war ein wenig enttäuscht von der Leipziger Moschee, nur eine große Wohnung in einem runtergekommenen Mietshaus, aus der die Wände so herausgebrochen waren, dass ein paar kleine Säulen entstanden. Teppiche auf dem Boden, Teppiche an den Wänden,
arabische Schriftzeichen, viel Gold, viel Kitsch, viel Tand, Hauptsache, Gott fühlt sich wohl, in der Nachbarwohnung lag die Moschee für die Frauen und Mädchen, wie in den getrennten Umkleidekabinen des Freibads ist das, ein Gott für die Männer und einer für die Mädels, bzw. zeigt er da seine weibliche Seite. Alis deutsche Freundin, die er damals hatte, ging immer in die Frauenmoschee, er hat sie zum wahren Glauben bekehrt, sie ging nur noch verschleiert auf die Straße und durfte mir nicht die Hand geben und erklärte mir das so, dass Gott es nicht gern hat, weil ich ja nicht ihr Mann bin. War gar nicht
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