Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
Vom Netzwerk:
Zimmermannsburschen Lust, das Hei-heimwer-kern!
, drehe das Brett, das den linken Flügel meiner Tür darstellen soll, so, dass es mit der langen schmalen Seite Richtung Kamera steht. Gar nicht mehr so kompliziert das Ganze, gelle!, und dort, ins Holz dieser schmalen Seite sind zwei Öffnungen eingelassen, oben und unten, darin sitzen die Stahlstifte mit den beweglichen Hebeln bzw. Schiebern, rein-raus, rein-raus, Flügeltür fest – Flügel beweglich, comprende?
    Und in die obere Öffnung habe ich einen Korken gezwängt, der passte da eigentlich gar nicht rein, mit einem Hammer habe ich den Korken in die kleine Öffnung gezwungen, der hält jetzt den Hebel und den Stift schön fest, damit niemand, wenn er an der Tür rumdrückt, in den Spalt greifen kann und einfach den Stift aus seiner Verankerung im Türrahmen ziehen, und dann Tür offen, wenn ich außer Haus, und Wohnung leergeräumt, und ich nix versichert.
    Mein Hund steht vor der Tür, tippt ein paar Mal mit der Schnauze gegen das Holz und guckt mich etwas dümmlich an. Er ist sehr alt und steht nicht gerne für längere Zeit, geht schon leicht in die Hocke mit den Hinterbeinen, will in seine Ecke für den Rest der Nacht. Aber was tun? Mutter ist in Afrika, mein Ersatzschlüssel in ihrer Wohnung, ich könnte zu meiner Schwester gehen, die ca. zwanzig Minuten entfernt wohnt, die hat einen Schlüssel für die Wohnung meiner Mutter, die ca. zehn Minuten entfernt wohnt. Aber was soll ich mit dem Hund machen? Der Weg ist viel zu weit für ihn, seit ein paar Wochen schafft er es nicht mal mehr auf die andere Straßenseite, wo der kleine Wald liegt, in den ich seit fast zehn Jahren, so lange wie ich in dieser Wohnung wohne, mit ihm gehe. Vorher lebte ich auch ganz in der Nähe; wenn ich mich richtig erinnere, gehe ich seit 1999 mit dem Hund auf dieses Areal, auf dem bis 1994 eine riesige Fabrik stand, VEB Polygraph, der Patenbetrieb meiner Schule, Druckmaschinen stellten die her, einige Male, zwischen 1986 und 1989 muss das gewesen sein, war ich dort mit meiner Klasse zu Besuch. Wir wurden durch die großen Hallen geführt, überall Maschinen, Straßen zwischen den Hallen und Gebäuden, wie in einer kleinen Stadt, sogar einen Eisenbahnanschluss gab
es. Die Schienen kann man heute noch sehen. Quer über die Straße laufen sie und enden vor dem Zaun, hinter dem der kleine Wald seit fünfzehn Jahren wächst. 1999 waren die Bäume und Büsche noch nicht so hoch und dicht. Manchmal blieben die Leute auf den Fußwegen stehen, wenn sie mich und meinen großen schwarzen Hund durch dieses Buschland streifen sahen. Da gab es große Senken, wo die Keller der Fabrik gewesen waren, in einer Senke sammelte sich um 2000 so viel Wasser, Schnee und Regen, dass eine Entenfamilie über ein Jahr dort lebte. Ich konnte ihn immer gerade so zurückrufen, wenn er ihnen an den Kragen wollte, aber eigentlich war er ja nur neugierig und wollte spielen, aber das sagen wohl alle Hundebesitzer, »Ach, der will ja nur spielen«, aber bei meinem Hund stimmte das tatsächlich, er war sehr gutmütig, aber etwas ungestüm, ich habe selten jemanden getroffen, der ähnlich gutmütig war.
    Im Lauf der Jahre wurde das Grün gegenüber meinem Haus so dicht, dass ich mich dort im Sommer über Stunden verstecken konnte, mit dem Hund in einer der halb zugewachsenen Senken saß und las oder die Handlungsbögen großer Werke notierte. Und nun scheißt er nur noch auf den Hof, zum Glück ist dort eine kleine, verwilderte Wiese um einen alten Kirschbaum herum, die gehört eigentlich schon zum Nachbargrundstück, aber das Haus haben sie vor zwei oder drei Jahren weggerissen, so dass ich jetzt freien Blick auf einen kleinen Flachbau habe, direkt unterhalb des Bahndamms, der hinterm Haus verläuft, dort werkelt irgendeine Schreinerei, manchmal bis spät in die Nacht, und manchmal stößt die giftig riechende Dämpfe aus einem kleinen Blechschornstein, dass ich die Fenster schließen muss. Gegenüber der Schreinerei
verläuft der geschwungene Häuserbogen einer Seitenstraße, die von der großen Hauptstraße, an der mein Haus sehr vereinzelt steht, abgeht. Schöne sanierte Häuser sind das, aber viele Wohnungen stehen leer. Ein paar Russen haben sich dort in einem der Häuser breitgemacht. Die kann ich in den Nächten manchmal hören. Brüllen und Grölen, ab und zu schreit eine Frau. Das scheint aber ihr normaler Alltag zu sein, Feiern und Streiten. Nur einmal, da saß ich abends auf meinem Klappstuhl und sah dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher