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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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schreit, obwohl ich das müsste wegen des Finanzamts Leipzig I, das ständig vor meiner Tür steht. Und vielleicht auch deshalb stehe ich jetzt mit ihm vor der kleinen Bar neben der Treppe. Aber es klang wirklich interessant, was er mir am Telefon erzählt hat, und nur wenn mich etwas packt und interessiert, bin ich käuflich ... Und er steht unschlüssig vor der langen Glasscheibe, die Männer am Tresen scheinen immer dieselben zu sein, und sagt wieder, er würde lieber nach unten in eins der Cafés gehen. Ich verstehe nicht, was er gegen die Bar hat, bisschen klein ist sie vielleicht, aber Platz war noch genug an den Tischen und am Tresen; wir laufen die Treppe runter in die Eingangshalle und dann durch einen Durchgang in die erste Einkaufsebene, laufen zwischen den Cafés und Geschäften und den vielen Menschen, wenn ich ein Terrorist wäre, würde ich hier eine Bombe platzieren, eine lebende vielleicht, ein paar Mal bleibt er stehen, blickt in eine Bäckerei und dann auch in das kleine italienische Restaurant, aber er scheint nicht zufrieden, ich sehe, wie er die Gäste und die Bedienung und die Räume ganz genau mustert, er sagt nichts, schüttelt nur kurz den Kopf, macht eine fahrige Handbewegung in Richtung der Geschäfte vor uns, ich laufe neben ihm, als wäre ich
der Fremde
, wir fahren mit einer Rolltreppe in die untere Einkaufsebene, auch dort Cafés, »Hier«, sagt er plötzlich, »warum nicht hier, das sieht doch nett aus.«
    Aber das sieht gar nicht nett aus, eine kleine Kaffeebude in der Mitte des Gangs, Tische und Stühle, Plastik, wie eine Insel im Menschenstrom, fast alle Tische leer, und dann sitzen wir, eingeschlossen von Bewegung. Und direkt über uns das offene Rechteck zur oberen Einkaufspassage und ganz hinauf zur Ebene der Bahngleise, dort hat er vor vielleicht zehn Minuten noch gestanden und mich beobachtet, und wenn ich den Kopf in den Nacken lege, kann ich das gläserne Rechteck im steinernen Dach der Bahnhofshalle erkennen, das aus vielen kleinen Quadraten besteht, auf die der Schnee jetzt fällt. Wir bestellen Kaffee und wärmen unsere Hände an den Tassen. Ab und an blickt auch er nach oben, man kann die Menschen an und neben den Geländern erkennen. Und er kommt nicht gleich zur Sache, wir reden eine ganze Weile über Filme und dann auch über Literatur, da scheint er sich ein wenig auszukennen, kurz reden wir über meine Bücher, dann aber wieder über Filme, und jetzt wird er langsam locker, seine Blicke folgen nicht mehr den Menschen, die an uns vorübergehen; das stetige Summen der Käufe und Verkäufe um uns, er redet sehr leise, das ist mir vorhin schon aufgefallen, und ich muss mich halb zu ihm rüberbeugen, um ihn zu verstehen, ich höre nur auf einem Ohr, seit Geburt, aber das kann er nicht wissen. Er erzählt, wie er einmal Scorsese getroffen hat, ich sage, dass
Mean Streets
auf meiner Top-Ten-Liste der besten Filme steht und dass die letzten Scorsese-Filme scheiße waren, vor allem
Departed
, den hat Scorsese nämlich geklaut, es gibt diese Hongkong-Trilogie,
Infernal Affairs
, und er weiß das natürlich auch und freut sich, dass ich es weiß, und wir reden über diese großartige Saga über Verrat und Verdammnis, »das Problem der Hongkong-Filme ist, dass man die Darsteller oft nicht richtig
auseinanderhalten kann«, und er erzählt von Michael Cimino, den er auch mal getroffen hat, in Venedig vor über zwanzig Jahren, und ich sage, dass
The Deer Hunter
auch auf meiner Top-Ten-Liste ist, obwohl das nicht stimmt, aber ich überlege schon seit einiger Zeit, einen anderen Film rauszuschmeißen für dieses Meisterwerk, das mich beim Schreiben meines ersten Buches doch ziemlich beeinflusst hat, zusammen mit
Es war einmal in Amerika
und einigen Filmen von Sam Peckinpah.
    Dann, wegen der Käfigszenen in
The Deer Hunter
(»Wie sie da Russisch-Roulette spielen müssen bei den Vietkong, das sind mit die intensivsten Szenen der Filmgeschichte, finden Sie nicht auch, Herr Meyer?«), sind wir bei
Papillon
, dem ultimativen Knast-Film mit Steve McQueen in seiner besten Rolle (»Ein Skandal, dass er dafür nicht den Oscar bekommen hat!«), und da sind wir auch schon recht nah dran, elegant haben wir uns dem
Grund
unseres Treffens genähert, und bevor es zu spät ist und wir für den Rest seines Aufenthaltes in dieses
Herz der Finsternis
schauen, erzähle ich ihm noch schnell von meinen drei Exposés, schaffe es, damit es nicht ganz so plump wirkt, von Steve McQueen auf Paul Newman und
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