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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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muss mein Gepäck irgendwo auf diesem Bahnhof stehengelassen haben. Aber das Gepäck ist weg, und der krumme Meister führt mich zu einem Laden, wo es Dosenbier gibt, Glas ist gefährlich um diese Zeit. »Sie möchten sich also umbringen, Herr Meyer? Wir bringen Sie dorthin, wo man sich darum kümmert.« Wir sind zusammen durchs Bahnhofsviertel gewandert, ein paar Stunden zuvor, haben Geld verteilt an Bedürftige, Huren und Heimatlose, die Taschen waren voller Geld wegen dieser Lesung. »Und versprich mir, Mädchen, dass du dir eine heiße Wurst davon kaufst. Kein Junk, versprich mir das, Mädchen, dass du dir kein Junk für mein Geld holst!« Und kurz bevor ich in den Zug steigen will, finde ich diesen Hotelschlüssel in meiner Jackentasche. Nur ein Name drauf und keine Straße und keine Erinnerung, und ein Türke fährt mich durch die halbe Stadt, der Erlöser der Huren und Heimatlosen wird kommen in einem Mercedes, und das Hotel ist ein paar Straßen vom Bahnhof entfernt. Zeig mir ein Bett, John Barleycorn, bevor
alles
weiß wird.
    Und ich liege und komme wieder zu mir. Ich friere. Ich friere so, dass Arme und Beine an den Manschetten reißen. War da nicht eine Decke gewesen? Ich drehe den Kopf und sehe sie auf dem Boden neben dem Bett. Obwohl die Neonröhren leuchten und flackern, sehe ich das Dämmerlicht, das durch die Jalousien fällt. Ich drehe mich auf die Seite und versuche, an die Decke zu kommen. Ich friere so erbärmlich, dass ich an diese Decke kommen muss. Wieder
kippe ich das Bett ein Stück, und ich schaffe es, die Decke mit einer Hand zu greifen. Ich versuche, sie nach oben zu zerren, aber sooft ich es auch versuche, es gelingt mir nicht. Ich schäme mich plötzlich für meine Nacktheit und spüre einen Ständer in meiner Unterhose. Es gibt einen sogenannten Schwäche-Ständer, wenn das Blut überall absackt und sich dort sammelt. Ich spüre, wie er wieder schlaff wird, während ich weiter an der Decke zerre. Jetzt könnte ich doch rufen, um Hilfe rufen, damit jemand die Decke auf meinen Körper legt, aber ich kippe das Bett wieder an und kralle meine Finger in den Stoff. Bis zur Bettkante kann ich sie hochziehen, aber weiter geht es nicht, weil ich keinen großen Spielraum habe unter diesen verdammten Fesseln, wieder kippe ich das Bett und versuche es und versuche es, während draußen die Morgendämmerung immer heller wird. Es wird spät hell Ende Dezember. Irgendwann komme ich auf die Idee, die Decke mit meinen Zähnen zu packen. Und tatsächlich liegt sie nach weiteren langen Minuten, es kann auch eine halbe Stunde sein, zur Hälfte auf mir, beginnt aber sofort wieder zu rutschen. Wieder schlage ich meine Zähne in den Stoff, mein Mund ist voller Fusseln, ich huste und spucke, die Decke liegt auf dem Boden, und ich beginne wieder von vorne. Wieder und wieder, ich weiß nicht, wie lange, nur ich und die Decke. Irgendwann höre ich Stimmen und Schritte. Ich presse den Teil der Decke, den ich habe, an mich. Ich muss lachen. Eine Seite warm, eine Seite kalt. »Ich bin noch da, ihr Schweine!«
    Gewalten. 2009 .

Im Bernstein
    Es ist unser erstes Treffen, und ich weiß nicht, wie er aussieht. Der Zug aus Berlin ist schon ein paar Minuten da, und ich stehe am Bahnsteig. Immer noch steigen Leute aus, laufen an mir vorbei. Es ist ein langer Zug, einer von diesen zweigeteilten ICEs, er fährt in genau elf Minuten nach München. Vielleicht ist er ziemlich weit hinten eingestiegen, ich sitze meist im Speisewagen auf kurzen Strecken. Vielleicht hat er reserviert und einen Platz im letzten Wagen bekommen, der fast schon außerhalb der Bahnhofshalle steht. Leipzig hat einen Kopfbahnhof, und die Letzten werden die Ersten sein, zumindest auf dem Weg von Leipzig nach München.
    Jetzt kommen kaum noch Menschen aus den Wagen, meist sind es Frauen, direkt neben mir fallen sich zwei um den Hals, ein Mann und eine Frau. Ich höre Gesprächsfetzen, aber konzentriere mich weiter auf den Zug und den Bahnsteig, blicke in die Gesichter der wenigen Männer, die mir entgegenkommen, bestimmt weiß er, wie ich aussehe, ungefähr zumindest. Ich halte mein Telefon in der Hand, vielleicht ruft er an oder schreibt eine SMS . Es ist kalt, Februar, und ich schiebe die Hand mit dem Telefon in meine
Manteltasche. Es hat geschneit und schneit immer noch hin und wieder, und der Schnee liegt seit ein paar Tagen, wird aber bald schmelzen, haben sie gesagt. Ich trage einen braunen Wildledermantel mit Pelzfutter und Pelzkragen, den mir mein
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