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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Holz, mit Masten und Segeln und Takelage, und es mit an den See genommen. Es gab zwei Seen dort, der Waldsee mit den toten Bäumen war ein Stück weit entfernt. Auf dem Weg dorthin kam man an einem großen Sumpf vorbei, mitten im Wald, die Oberfläche grün von Entengrütze, und Skelette von Bäumen lagen auf dem Grün. Eine Schicht aus Laub und fauliger Erde bis an das Ufer. Auch der etwas entferntere See war halb versumpft, nur an einer Stelle konnte man ins Wasser gehen und schwimmen. Ich konnte nicht schwimmen, habe das erst gelernt, als ich vierzehn oder fünfzehn war. Und ich bin an diesen See gegangen damals, mit meinem Schiff. Ein Dreimaster, Vollschiff, auf dem Deck standen Kanonen, das waren Patronenhülsen, die hatte ich im Wald gefunden, nicht unweit des Sumpfes. Das war in Mecklenburg, zwischen Güstrow und Krakow am See, wo der Schriftsteller Uwe Johnson einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Einmal kam uns der Schriftsteller Fred Wander, der eine Zeitlang dort in der Nähe lebte, besuchen, der war weltberühmt durch sein Buch
Der siebte Brunnen
, aber all das verschwindet und verschwimmt, ich versuche, nach Luft zu schnappen, sehe den Rand und die braunen Wände dieser Torfgrube wie durch eine große unscharfe Brille, sehe den Kiel meines kleinen Schiffes über mir, sehe die Luftblasen, schlage um mich mit Händen und Füßen, sehe Grasbüschel, die unter Wasser wachsen, versuche, nach ihnen zu greifen, Grasbüschel wachsen auch am Ufer, ich kann sie sehen, muss nur nach ihnen greifen, aber ich sinke. Mein Großvater, der das Dach des
Hauses teerte, vielleicht einen Kilometer entfernt, erzählte später, er habe den Schrei irgendeines sterbenden Tieres gehört, aber jetzt kein Schrei, nicht mal ein Flüstern, denn sie haben mich stumm gemacht.
    Ich sehe aus den Augenwinkeln ihre Rücken, sehe die Tür, wie sie sich schließt. Sie haben mich zugedeckt, die Decke bis hoch zum Hals gezogen. Erst versuchen sie, mich umzubringen, dann decken sie mich zu. Ich spüre das Zeug, das sie in mich reingeschossen haben, ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Ich merke, wie ich wegdrifte. Heute ist Silvester, denke ich noch. Vielleicht werde ich schlafen bis 2009 . Und während ich wegdrifte, zwischen Schlaf und Rausch und Ohnmacht, bin ich wieder in dieser Bar, wo alles angefangen hat.
Brick’s
heißt sie, eine der besten Bars in der Stadt, die eigentlich in keinem Touristenführer fehlen sollte, täglich geöffnet bis mindestens vier, ein kleiner, halbdunkler, niedriger Raum unten im Keller, am besten sitzt man an dem halbrunden Tresen, die Cocktails sind gut, die Barmänner und -frauen klassische Schule, auf einer Leinwand laufen Musikvideos, meistens aus den Achtzigern, ein Absacker geht immer im
Brick’s
, und wer ein paar Mal dort war und immer wiederkommt, wird zum
Brickser
. Ich sollte Barführer schreiben, und vielleicht mache ich das, wenn ich irgendwann wieder aufwache. Zwerg Nase schlief sieben Jahre lang. Wir sitzen da und trinken, ich und mein Freund und Mit-Brickser UKG , der in Leipzig eine Galerie betreibt, wir haben schon oft hier gesessen, manchmal mit einem seiner Künstler, einmal sind wir am Ostersonntag, morgens, es schneite, aus der Bar getaumelt und zur Nikolaikirche gezogen, die nicht weit weg ist. Hier pilgern die ewigen 89 er hin und beten zur friedlichen Revolution, eine weiße
Säule steht auf dem Kirchenvorplatz, aus der wachsen oben grüne Palmenblätter aus Gips, das hat auch irgendwie mit 89 zu tun laut Inschrift, der Erlöser (alles hat ein Ende, nur der Durst ist frei) kam in einem Trabbi in die Stadt und nicht in einem Mercedes oder Audi, und die Proleten haben ihn mit Grünzeug beschmissen, das er sammelte und an all die Vegetarier weitergab, die sich leckere Salate damit anrichteten, Palmsonntag, ich habe eine Tätowierung, eine Kette mit einem Kreuz auf meiner Brust, die habe ich mal Theologiestudenten gezeigt, auf einer Theologenparty war das, 2004 , ich habe mir das Hemd vom Leib gerissen, weil die mir kein Bier mehr verkaufen wollten und ich sie mit meinem tätowierten Kreuz bekehren wollte zum Bierverkauf von jetzt an bis in alle Ewigkeit, die Ewigkeit habe ich nie begriffen im religiösen Sinn, wäre es nicht furchtbar, Milliarden Jahre Bier zu trinken in der Gartenkantine
Eden
und kein Ende in Sicht, und der Kater nach fünf Millionen Jahren endlich ausgestanden, und die nächste Runde wartet schon ... und wir stehen also vor der Kirche im Schnee und schlagen
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