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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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mit den Fäusten gegen die Tür, »Lasst uns rein, wir suchen die Erlösung!« Wir versuchen, die Wände hochzuklettern, um zu den Fenstern zu gelangen, ich brülle: »Pfarrer Führer, Pfarrer Führer, komm raus!«, der ist nämlich der Chef von dem Laden, 89 bis in alle ... aber wir begreifen nicht, dass es aus unbegreiflichen Gründen keine Ostermesse gibt, dass die Kirche leer und verrammelt ist. Der Maler Paule Hammer ist dabei (Ich habe ein Bild von ihm, ziemlich groß, das heißt
Aua
, auf schwarzer Fläche Hunderte Punkte wie Sterne, auf jedem ein
Aua
geschrieben in winziger, blauer Schrift. Jemand schrieb mir mal dazu: »An deiner Wand: ein Bild aus tausend Wehklagen, schmerzenden
Punkten im Weltall. Diese berstende Fläche, durchbrochen von einem Licht, dessen Konsistenz der Künstler – sagtest du mir – nicht verrät. Schon dort, denke ich heute, war alles erahnbar.«), Paule Hammer findet einen riesigen Dietrich in einer Nische im Mauerwerk, der muss hundert Jahre und noch älter sein, UKG versucht, damit die Tür zur Sakristei zu öffnen, eine Polizeistation nur ein paar Straßen weiter, und wir ziehen grölend zur nächsten Kirche, um um Einlass und Erlösung zu bitten. Schon damals hätte ich hier schlafen sollen, Ostersonntag, Silvester, Nemesis.
    Und wir taumeln aus dem
Brick’s
, die Nacht vom 30 . auf den 31 ., Jahr 2008 , schneit es?
    Ich singe Lieder. »Ja, ja, Chemie, ja, ja, Chemie, ja, ja, Chemie steigt wieder auf ...« Chemie, das heißt der FC Sachsen Leipzig, taumelt gerade auf die x-te Insolvenz zu, aber mit mehr Tempo als wir Richtung Taxistand.
    Und dann hält ein Streifenwagen neben uns, wir laufen nämlich auf der Straße, eine ziemlich kleine Straße, auf der um diese Zeit keine Autos fahren, außer den Bullen und ein paar Taxis. Als sie aussteigen und auf uns zukommen, sage ich: »Verpisst euch, ihr Arschlöcher«, oder so ähnlich.
    Und da stehe ich halbnackt in dieser gefliesten Zelle und schreie: »Ich habe das Recht auf ein Telefonat, wenn ich nicht telefonieren darf, hänge ich mich auf!« In diese Gegensprechanlage schreie ich das. Eine Menge Polizei plötzlich in dieser kleinen Straße, da sind wohl noch mehr gekommen, die Dynamik der Situation, und ich mal am Boden, dann zwischen den Bullen, dann mal an diesem Drahtzaun vor dem leeren Grundstück, dort führte früher mal ein kleiner Weg durch, direkt zum Bahnhofsvorplatz, UKG will schlichten, hält mich fest, »Hilfe«, schreie ich,
»holt doch die Polizei, zu Hilfe, Uwe, ruf die 1 - 1 - 0 !« Zwischen den Körpern sehe ich den großen Glaswürfel des Museums, auf dem die Lichter blinken. Blau.
    »Nimm deine Pfoten weg«, schreie ich und schlage sie auch weg, das sind aber nicht die Hände von UKG , dieser Bulle mit den kurzgeschorenen Haaren, der auf mir kniet, ist ein Lok-Leipzig-Fan, dem haben meine Lieder nicht gefallen, nur so kann es gewesen sein. Deswegen, und nur deswegen, beschimpfe ich ihn während der Fahrt, und deswegen, nur deswegen, rammt er mir seinen Ellenbogen in die Seite und setzt sich auf mich, und jedes Mal, wenn ich ihn beschimpfe, ist da sein Ellenborgen oder seine Hand. Die Dynamik der Situation, wie sollte ich ihm da böse sein, diesem Dreckschwein, in Amerika hätten sie mich schon halb tot geprügelt.
    Ich war erst einmal in Amerika, New York, Anfang März 2008 , und bin mit einer Schnapsflasche nachts durch China Town getaumelt, weil ich nicht wusste, wo ich bin. Ich sollte mir Gedanken machen, warum das manchmal außer Kontrolle gerät. »Wenn ich nicht telefonieren darf, hänge ich mich auf!«
John Barleycorn
hat Jack London ihn genannt, diesen alten, krummen Meister, der neben dir am Tresen kauert und dir immer wieder die neuen Bestellungen einflüstert und, wenn du schon gehen willst, mit einem Sprung auf deinen Schultern sitzt, dass du genauso krumm wirst wie er und dich auf dem Tresen abstützt, John Barleycorn, der auch dann noch da ist, wenn alles weiß wird in deinem Kopf, mit John Barleycorn bin ich durch diese fremde, große Stadt getaumelt, irgendwann im Frühjahr 2006 nach einer Lesung, nur noch auf einem Auge sehend. »Wo bin ich?« Ein großer Bahnhof, das muss München sein. Was verdammt nochmal mache ich in
München? Gut, gut, das wird schon seine Richtigkeit haben, es ist Morgen, und dann werde ich einfach nach Hause fahren, München – Leipzig, in fünf, sechs Stunden bin ich heeme, bei meiner Axt und meinem Hund. Aber dann sehe ich FRANKFURT / MAIN HBF . Mein Gepäck, ich
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