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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Opa vererbt hat. Das heißt, meine Oma hat ihn mir gegeben, denn der Opa war damals schon tot. Der Mantel sitzt wie angegossen, und das verstehe ich immer noch nicht, war mein Opa doch ein kleiner, untersetzter Mann, und seine anderen Mäntel haben mir nicht gepasst. Aber er muss ihn getragen haben, wie ein Fürst mit einer Schleppe hat das sicher ausgesehen, denn ich fand eins seiner großen Stofftaschentücher in einer der Seitentaschen. Benutzt war es und klebte zusammen, und ich hab es in irgendeine Schublade gesteckt. Im Haus der Oma, oben an der Küste, nicht weit von Usedom, am Tag vor der Beerdigung, fast ein Jahr her. »Du siehst aus wie ein verarmter russischer Adliger mit diesem Mantel«, hat mal eine Frau zu mir gesagt. Oder war es ein polnischer?
    Das kleine Elektroauto mit dem Nachschub für die Speisewagen kommt mir aus der Ferne entgegen, fährt am ersten Speisewagen vorbei. Die kleine Tür für die Waren ist noch offen, ein Zugbegleiter steht davor, und der Fahrer winkt ihm kurz zu.
    Ich trete zur Seite, und das kleine Auto mit dem Anhänger summt an mir vorbei.
    Es kommen noch welche angerannt, obwohl nach meiner Uhr, die fast auf die Sekunde genau geht und die ich immer nach meinem Atomuhr-Funkwecker stelle, noch mehr als drei Minuten Zeit sind bis zur Abfahrt. Ich blicke am Zug entlang durch den großen Bogen auf das Weiß draußen, in das er gleich verschwinden wird. Es scheint wieder zu schneien, verschwommen sehe ich das Haus, in
dem die Deutsche Bahn arbeitet, direkt hinter dem Außenbahnsteig 10  a. Vor ein paar Jahren, 2003 muss das gewesen sein, bin ich dort jedes Mal vorbeigekommen auf dem Weg ins Innere des Bahnhofs, wo wir die Züge saubermachten. Dort brannte immer Licht in zwei Fenstern unter dem Giebel, schiefe Fensterläden auf der Mauer. Ein sehr spitzes Dach, darauf glitzerte der Frost in den Novembernächten, ein plötzlicher Kälteeinfall, das weiß ich noch. Ein alter Mann hat mir erzählt, auf unseren Wanderungen zwischen den Zügen, die draußen standen, und den Zügen, die drinnen standen, wir trafen uns immer in einem Bahnbetriebswerk zwei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, da hat er mir erzählt, wie sie in einem Lokschuppen, irgendwo zwischen oder neben den Gleisen, genau weiß ich das nicht mehr, wie sie dort die Selbstmörderloks behandelt haben, an denen teilweise noch ganze Leichenteile hingen, manchmal versteckt zwischen dem Gestänge und unter der Lok im Getriebe, wie sie die Reste wegspritzen mussten mit einem Schlauch, aber ich war mir nie sicher, ob das stimmt, vor allem, als er einmal von einem ganzen Kopf erzählte, na ja, ein paar Stücke müssen schon gefehlt haben. Ich habe gedacht, die Polizei und die Staatsanwaltschaft müssen kommen und diese Fälle untersuchen, dürfen auf kein Teil, kein auffindbares Körperteil, verzichten ... Und dann verschwindet der Zug in dem Schneetreiben, draußen wird es langsam dunkel, obwohl es erst zehn vor halb vier ist, 15 Uhr 18 , anderthalb Minuten ist er zu spät losgefahren, habe ich die Lautsprecheransage gar nicht gehört, das war nun mal wirklich ein pünktlicher Zug, wo es doch seit Monaten Probleme gibt mit den Radachsen einer ICE -Serie und jede Menge Züge ausgefallen sind, aber es scheint besser zu werden, je näher der Frühling rückt.
    Und als die letzten Wagen des Zuges durch den Torbogen fahren, weht plötzlich ein sehr kalter Wind hinein und beißend über den Bahnsteig, und ich habe großen Appetit auf ein torfiges Glas Lagavulin, sechzehn Jahre alt, und wie der mich wärmen würde und wie ich diese von innen kommende Wärme in meinem Pelzmantel konservieren könnte für Stunden, aber zwei Gläser müssten es dann schon sein. Wenn er nicht kommt, denke ich, und wenn er sich nicht meldet, das Telefon halte ich wieder in der Hand, werde ich in diese kleine Bar neben der Treppe gehen, die haben zwar keinen Lagavulin, aber ein Johnny Walker tut es zur Not auch, wenn es so kalt ist. Und dann wähle ich doch seine Nummer, die ich, bevor ich durch die kalte Stadt zum Bahnhof fuhr, im Handy gespeichert habe. »The person you have called ...«
    Als ich mich umdrehe und ein paar Schritte gehe, fällt mir der Mann auf, der ein Stück entfernt am Geländer lehnt und mich zu beobachten scheint. Das Geländer läuft um eine große, rechteckige Öffnung, in der Mitte der Bahnhofshalle, von dort kann man in die unteren Ebenen mit den Läden und Restaurants und Cafés blicken. Ich habe mich ein paar Mal umgedreht,
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