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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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während ich am Kopf des Bahnsteigs wartete, ob er nicht irgendwo hinter mir steht, an mir vorbeigelaufen ist im Strom der Reisenden, aber dieser Mann ist mir nicht aufgefallen, vielleicht liegt das daran, dass er jetzt ganz alleine an diesem silbernen Geländer lehnt, die Hände in den Taschen seines Mantels, und zu mir rüberblickt. Reglos steht er da, aber seine Augen blicken eindeutig in meine Richtung. Ich wollte eigentlich schräg an ihm vorbei zu dieser Bar neben der Treppe, gehe aber nun langsam auf ihn zu. Und da rührt er sich plötzlich, hat ja halb auf dem Geländer gelehnt über
dem großen, offenen Rechteck, das helle Licht der Läden und Cafés und Restaurants von unten in seinem Rücken, er streicht die Aufschläge seines grauen Mantels glatt und kommt seltsam geduckt auf mich zu. »Herr Meyer?«
    »Ja«, sage ich und bin mir sicher, dass er mich schon seit einer Weile erkannt und beobachtet hat, Lautsprecheransagen trennen uns kurz, dann reiche ich ihm die Hand, er nennt seinen Namen, den ich ja schon kenne, wir haben ein paar Mal telefoniert, aber seine Stimme, so ist das meistens, klingt ganz anders, wie er da so vor mir steht. »Ich dachte schon, ich habe Sie irgendwie verpasst.«
    »Das dachte ich auch«, sage ich, »schön, dass es geklappt hat. Ich hab vorhin versucht, Sie ...«
    »Mein Telefon ist oft aus«, sagt er.
    Er hat kein Gepäck dabei, und das wundert mich, weil er doch nach Köln weiterwill, wie er mir gestern per E-Mail geschrieben hat, in ein paar Stunden, oder vielleicht in einer, je nachdem. »Haben Sie schon gegessen«, frage ich und denke sofort, dass das vielleicht eine komische Frage ist, wo wir uns doch nur übers Telefon und von E-Mails kennen und erst seit vielleicht zwei Minuten von Angesicht zu Angesicht; und er wirkt seltsam zurückhaltend, fast vorsichtig schon.
    »Im Speisewagen«, sagt er, »aber einen Kaffee vielleicht.« Er trägt diesen grauen Mantel, den Kragen hochgeschlagen, eine Art Trenchcoat wird das sein, und ich versuche, mich zu erinnern, ob dieser Mantel nicht vorhin an mir vorbeigekommen ist, am Kopfende des Bahnsteigs. »Wir können ein Stück in die Stadt gehen«, sage ich.
    »Da unten«, er zeigt auf das große Rechteck mit dem silbernen Geländer, »sind da nicht auch Cafés?«
    »Dort auch«, sage ich, und er sagt sofort, streicht dabei
über die Aufschläge seines grauen Mantels: »Also, wir können auch in die Stadt, wissen Sie, ich war ja noch nie in Leipzig, also nur ein Mal, und das war nur sehr kurz, aber hier auf dem Bahnhof... ich muss ja nachher weiter, und Sie auch.«
    »Nein«, sage ich, »ich habe keine Termine in den nächsten Tagen, also außerhalb von Leipzig.«
    »Dann hab ich das wohl falsch verstanden am Telefon, ich dachte, Sie müssen auch weg, heute noch ... genug Zeit habe ich natürlich, muss erst gegen sechs weiter, aber ich habe schon sehr viel gehört von diesem Bahnhof hier.« Mir fällt auf, dass er die ganze Zeit, während wir reden, an mir vorbeiblickt und den leeren Bahnsteig mustert, auf dem eben noch sein Zug stand. »Klar«, sage ich, »da unten sitzt es sich auch gut, aber wir können auch mal da vorne gucken.« Ich zeige mit der Linken, die immer noch das Telefon hält, auf den doppelten Torbogen, hinter dem die Treppe hinab zur Eingangshalle führt, neben der Treppe und dem Torbogen diese kleine Bar, die machen guten Kaffee, das weiß ich, und auf der anderen Seite der Treppe ist ein Friseur, immer viel Betrieb dort. Und wir gehen in diese Richtung. Schlagen einen Bogen um das leuchtende Rechteck. Schwer zu sagen, wie alt er ist. Mitte vierzig, Anfang fünfzig, Gesicht ziemlich glatt, etwas rund wirkt es. Haare hat er nicht mehr viele, nur einen grauen Kranz. Ich weiß nicht, warum er auf
mich
gekommen ist. Ich bin neu in diesem Geschäft, obwohl, drei Exposés habe ich geschrieben, das waren Ausarbeitungen von Ideen, die liegen woanders, und obwohl sie die gut finden (sagen sie zumindest) und angeblich darüber nachdenken, sie mir abzukaufen oder mich zu beauftragen, die Stoffe weiter auszuarbeiten, war noch keiner von ihnen hier bei mir in
der Stadt oder auf dem Bahnhof, aber ich weiß, dass die Mühlräder in diesem Geschäft sich langsamer drehen als die Flügel dieser berühmten alten Bockmühle in Wolmirstedt, weit draußen vor der Stadt M, wo ich bald hinfahren werde. Aber dieser Mann ist hier, hat mich zigmal angerufen, hat nicht lockergelassen, weil ich doch keiner bin, der sofort »Hurra, ich mach es«
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