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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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Wehr gesetzt hatte, als hätte er dem Urteil insgeheim zugestimmt. Selbst wenn er sich, wie Berit behauptete, Dinge zurechtlegte oder nur das sah, was er sehen wollte. Wie konnte Berit ihm so etwas zutrauen? Vielleicht willst du dich nicht erinnern? Den Kiefer vor Ärger verkrampft, starrte er stundenlang auf den gezackten Rand eines Weinflecks im Teppichboden, denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, erschien ihm der geschorene Kopf, das vor Entsetzen entstellte und in die Breite getriebene Gesicht seiner Tochter.
    Der Obdachlose im Wärmestrahl vor dem Supermarkt roch ihre Verwandtschaft und wünschte schon am zweiten Tag einen guten Abend, während Gabor auf den Theatervorplatz zustrebte, um in einem Kellerrestaurant inmitten von Touristen oder Pharmalobbyisten in grauen Anzügen etwas in sich hineinzuschlingen. Er hatte gehofft, dass sein Auszug Berit die Absurdität ihres Vorwurfs deutlich machen und sie ihn irgendwann kleinlaut bitten würde, zurückzukommen, aber stattdessen meldete sie sich nicht und ging auch nicht an den Apparat, wenn er sie anrief. Sobald der Alkoholgehalt in seinem Blut seine Hemmschwellen niedergerissen hatte, sprach er ihr auf die Mailbox, in einer menschenleeren Gasse zwischen dunklen Bürogebäuden stehend, appellierte an ihre Vernunft, nuschelte wie im Selbstgespräch vor sich hin und überzog sie schließlich mit Beschimpfungen.
    Die Einsatzleiterin meldete sich nicht. Weder erschien sie unangekündigt in der Klinik, was er am meisten fürchtete, noch wartete sie im Hotel, wenn er von der Arbeit kam. Waren die Ermittlungen für sie abgeschlossen? Erst war er erleichtert, dann brachte es ihn fast um den Verstand, dass er von allem abgeschnitten war, allein mit seiner Wut und der Ohnmacht und den quälenden Erinnerungen an seine nächtlichen Ausfälle. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fuhr von der Klinik nach Hause, doch statt auszusteigen, blieb er im Auto sitzen, mit einem Mal besänftigt von dem brennenden Licht in Maltes Zimmer. Er sah die bunten Vögel auf der Scheibe, die Vorhänge mit den goldenen Sternen. Er ließ den Motor ausgehen und öffnete das Fenster. Die Luft war kalt, und er hörte das leise Rascheln der Blätter an den Ästen der Kirsche. Für ewige Minuten kamen weder Fußgänger noch ein anderes Auto vorbei. Endlich trat Berit an Maltes Fenster, öffnete es, und lange, nachdem sie wieder verschwunden war, sah er noch ihr Lachen, ihren sich bewegenden Mund. Seine Vorstellung war so klar, als säße er bei ihnen: Berit, auf Maltes Bettkante, ein Buch auf dem Schoß, und Malte, der seine Wange an den Arm seiner Mutter drückt. Um fünf nach acht erschien Berit wieder, schloss den Fensterflügel, und während sie den Griff drehte, bemerkte sie sein Auto und hielt inne. Sie sahen einander an. Ihr Ausdruck war unbeschreiblich, schmerzhaft und abwesend. Kurz darauf war das Kinderzimmer dunkel.
    Zum ersten Mal seit Langem konnte er wieder schlafen.
    Am nächsten Mittag, Gabor saß zwischen Röntgenbesprechung und Oberarztvorstellung untätig in seinem Zimmer, stand Yann plötzlich in der Tür. Gabor hatte ihn seit der Anhörung nicht mehr gesehen und rief: »Oh. Dich hätte ich jetzt nicht erwartet.«
    Yann trug wie immer seine Löwenmähne im Nacken zusammengebunden und sah genauso jugendlich aus wie immer, nur dass sein Blick ungewohnt düster war. Er kam näher und wartete, bis Gabor endlich die Beine vom Tisch nahm.
    »Ich glaube es nicht«, sagte er.
    »Aha.«
    »Ich glaube nicht, dass du zu so etwas imstande wärst, und das habe ich Berit auch gesagt.«
    Der Jonglierball, den Gabor bis eben von einer in die andere Hand geworfen hatte, verharrte in seiner rechten Faust. Sekunden vergingen, in denen Gabor alle möglichen Antworten durchspielte und verwarf, entschied, nichts zu erwidern, und es dann doch tat.
    »Wie kannst du dir so sicher sein?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube es nur nicht.« Gabor schwieg, und Yann schwieg auch. Der Ernst passte nicht zu ihm, ließ seine Frisur aussehen wie eine gepuderte Perücke aus dem 18.   Jahrhundert. »Berit macht sich Sorgen um dich.«
    Gabor lachte und warf den Ball im hohen Bogen durch den Raum einen halben Meter neben den Papierkorb. »So nennt sie das also.«
    »Sie ist verwirrt, sie will keine Fehler machen.«
    »Sie will keine Fehler machen«, wiederholte er. »Und was hat sie dir noch anvertraut?«
    Yann wartete, bevor er weitersprach, als wollte er ihm die Möglichkeit geben, seine Ironie
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