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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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abzulegen.
    »Sie sagt, sie hatte immer das Gefühl, dass du etwas vor ihr versteckst. Sie hatte immer die Befürchtung, dass du sie nicht ihretwegen gewählt hast, sondern weil sie so gut in das Bild passte, das du dir von deinem Leben gemacht hast. Aber jetzt –«
    »Lass mich raten: Aber jetzt merkt sie, dass sie mich überhaupt nicht kennt. Dass sie keine Ahnung hat, mit wem sie all die Jahre Bett und Tisch geteilt hat.«
    Gabor blickte Yann belustigt an, gespannt auf das, worauf dieser Auftritt hinauslaufen würde. Er dachte an Overkamps Besuch vor über einem Monat: In seinen knarzenden handgenähten Budapestern war er auf und ab geschlendert, hatte mal aus dem Fenster gesehen oder gelangweilt ins Regal gegriffen und sich mit genüsslicher Langsamkeit Gabors Schreibtisch und dem genähert, was er hatte sagen wollen. Im Gegensatz dazu war Yann schnurstracks auf ihn zugeeilt wie ein Bote, der seine Mitteilung loswerden will, sah jetzt aber aus, als hätte Gabors Unterbrechung ihn aus dem Konzept gebracht. Gabor wies auf den Stuhl, aber Yann rührte sich nicht.
    »Gabor. Das bringt doch nichts. Hör auf, nachts anzurufen. Hör auf, ihr zu drohen. Das macht alles nur noch schlimmer.«
    Weil kein Ball mehr da war, den er kneten konnte, griff Gabor nach einem Stift und ließ ihn zwischen Daumen und Mittelfinger hin und her zittern. Erst jetzt schien die Spannung aus Yann zu weichen. Er verlagerte das Gewicht, machte noch immer keine Anstalten, sich zu setzen, stützte sich aber wenigstens auf die Rückenlehne. Er blickte kurz zu Boden, und als er wieder aufschaute, sagte er:
    »Ich weiß, wie du dich fühlen musst.«
    »Ach«, sagte Gabor. »Dann erklär’s mir, denn ich weiß selbst nicht genau, wie ich mich fühle.«
    »Du fragst dich, ob alle es wissen. Du fragst dich, was in den Köpfen der anderen vorgeht, wenn sie mit dir sprechen. Und natürlich, ob ich jemandem von Berits Verdacht erzählt habe.«
    »Hast du nicht?«
    »Warum sollte ich? Mir ging es damals in Freiburg ja genauso«, sagte er. »Als die Sache mit Kyra rauskam und mich die Kollegen behandelt haben wie einen Aussätzigen.«
    »Kyra?« Gabors Herz begann zu pochen.
    »Meine Freundin in Freiburg. Kyra. Kannst du dich erinnern?«
    »Vage«, sagte Gabor, während er fürchtete, das Geräusch seines pumpenden Herzens reichte bis über den Schreibtisch.
    »Jemand hatte Ritter erzählt, dass sie erst fünfzehn war. Die Kündigung, die Anzeige von Kyras Vater, das war alles nicht so schlimm wie mein eigenes Misstrauen. Ich habe überall Gespenster gesehen, konnte jahrelang niemandem trauen.«
    Die Erinnerung kam nicht plötzlich, sie stieg langsam in ihm auf wie die großen bläulichen, schlingernden Luftblasen der Straßengaukler, wie etwas, über dessen permanente Veränderung man staunt, bevor man in der Lage ist, seine ganze Gestalt zu fassen. Der Tag, nachdem er Kyra in der Fußgängerzone begegnet war und sie ihn nicht erkannt, ihn angestarrt hatte wie eine Wand. Kommilitonen in einem rauchverhangenen Weinkeller. Lautes Lachen, aufgekratzte Stimmung, und irgendjemand brachte die Rede auf Yann, der für seine Weiterentwicklung der Spiegeltherapie einen Forschungspreis bekommen sollte, wovon Gabor noch nichts gehört hatte. Am nächsten Tag hatte Gabor zufällig Ritter auf dem Campus getroffen, der ihn freundlich grüßte und wissen wollte, ob er schon eine Stelle gefunden habe. Sie hatten sich über Köln und den Niederrhein unterhalten, bis die Rede wieder auf Yann kam. Die Entdeckung von Herrn Rosefeldt sei eine kleine Sensation, weil sie die Symptome in einem Bruchteil der bisherigen Trainingszeit zum Abklingen bringe, hatte Ritter gesagt. Gabor erinnerte sich: an seine Ohnmacht und die Wut, die sich in ihm zu einer Nadel verdichtete. Er konnte Yanns Namen nicht mehr hören. Er wollte das stolze Lächeln in Ritters Professorengesicht nicht mehr sehen. »Kennen Sie eigentlich seine Freundin?«, hatte Gabor gefragt. »Nein«, hatte Ritter neugierig geantwortet. »Er versteckt sie auch. Sie geht noch zur Schule. Ist fünfzehn, glaube ich.« – »So«, hatte Ritter nur leichthin gesagt und einfach weitergelächelt, aber etwas in seinem Ausdruck hatte sich verändert, sein Blick war für einen Moment starr in die Ferne gerichtet, und dann hatte er sich verabschiedet, als sei ihm Gabors Nähe plötzlich unangenehm.
    »Du hast den Job verloren?«, fragte er. »Kyras Vater hat dich angezeigt?«
    »Gerichtsverhandlung. Ritter, der mir nahegelegt hat,
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