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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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Rollator braucht sie offenbar nicht, um sich zu stützen, denn sie hat ihn umgedreht und sich lässig darauf gesetzt. Die Beine angewinkelt und auf eine Strebe abgestellt. Vollkommen locker auf ihrem mobilen Barhocker sitzt sie, kaut dabei etwas Unsichtbares und raucht eine Filterzigarette.
    Käme jetzt so ein Oberrapper vorbei, wie Massiv oder Massivholz, der sähe neben der cool da sitzenden Rentnerin so alt aus, dass sie ihm wohl ihren Platz anbieten würde. Oder so was sagen würde wie: »Was guckst du so, Alter, passt dir irgendwas nicht? Passt dir meine Fresse nicht?« Und wäre der Oberrapper dann noch so leichtsinnig, etwas wie »Schnauze, Oma« zu sagen, würde sie ihn so schnell mit einer Tirade überziehen à la »Willst du mich anmachen, oder wat, du Spasti im Clownskostüm, steck dir deine Knarre in den eigenen Arsch. Lass dich lieber noch mal adoptieren, wenn dir Mutti fehlt, du Flachzange«, dass er immer weiter die spiralförmige Treppe der Verwirrung hinunterpurzeln würde, ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Vielleicht würde er ihr nahe kommen im Affekt – Schläge wären wohl etwas heftig, überlegt er, will ihr aber wenigstens die Zigarette aus der Hand schnippen. Bevor es aber so weit kommt, hat sie die schon in Herzhöhe durch sein Synthetikshirt gebrannt und schön an seinem Brustbein ausgedrückt, woraufhin er nach hinten ausweicht, stolpert und aufs Neue beweist, dass ein Mensch durchaus in der Lage ist, eine Tram aufzuhalten.
    Oder sie hätte eine der Plastiktüten gegriffen und sich nicht die Mühe gemacht, die Knarre herauszuholen, die sie aus der Tüte heraus abfeuert.
    Diese Frau ist gefährlich, das sieht man schnell, schon allein daran, wie sie so cool auf ihrem Rollator hockt. Aber sie ist nicht allein, noch eine Frau ist gefährlich und erreicht die Haltestelle, um mit uns anderen auf die Tram zu warten. Sie ist ungleich jünger, aber auch schon eine Weile erwachsen. Auch scheint sie kräftigen Speisen zugeneigt zu sein, Kannibalismus nicht ausgeschlossen, jedenfalls sind ihre Rundungen durchaus augenfällig.
    Noch augenfälliger ist aber das leichte Kleid im Tigermuster, das so knapp dort endet, wo ihre Beine beginnen, dass sie quälend oft am Saum herumzupft. Ihr Blick dazu, den sie schweifen lässt, ist ein schummriges, geräumiges Schlafzimmer mit unzähligen Kissen und Decken, aus versteckten Lautsprechern füllt »Je t’aime« in Longplay-Version die leicht überheizte Spielwiese.
    Unvorsichtigerweise schaue ich eine Sekunde zu lang in die größer geschminkten Augen und eine Testosteron-Sicherung brennt durch. Nur mit großer Selbstbeherrschung, die zwei Grundkurse Yoga und viele Jahre Harai-Kiri-Kiri in mir angelegt haben, widerstehe ich dem unbändigen Drang, zu hauchen: »Hey Baby, wo hast du Rakete denn vor, heute zu landen?«
    Vermutlich ist es aber auch mein Selbsterhaltungstrieb, der ahnt, dass sie mir nach so einer Bemerkung einfach den Kopf abbeißen und ihn beiläufig auf die Tramschienen spucken würde. Ist ihr nicht kalt in diesem erschreckend kurzen und leichten Tigermusterkleid? Und warum weckt so ein Tigermusterkleid in mir das Bedürfnis, zu bellen? Oder heizt sie einfach alle um sie herum so dermaßen auf damit, dass sie im Zentrum der Aufmerksamkeit keinen Pullover braucht?
    Glücklicherweise kommt jetzt die Tram zu uns Wartenden. Und bringt uns dorthin, wo wir hinwollen. Nur die alte Frau bleibt einfach sitzen und raucht weiter. Was sind schon ein paar Minuten Wartezeit, was ist ein Tag oder ein Jahr, oder auch ein Jahrhundert? Für sie sind wir nur Schall und Rauch.

Heiko Werning
Dichter und Currywurst
    Als ich herzog, hielt ich es für einen großen Pluspunkt der Infrastruktur, direkt gegenüber einer Pommesbude zu wohnen. Nach dem ersten Besuch beim
Imbiss zur Mittelpromenade
sah ich das schon deutlich kritischer. Nach dem zweiten und dritten erst recht.
    Es dauerte nicht sehr lange, bis mir klar wurde, dass die kleine Bude an der Straßenbahnhaltestelle eine echte Bedrohung darstellt. Dass Imbissbudenessen nicht gerade besonders gesundheitsförderlich ist, weiß ich natürlich. Bis dahin hielt ich das aber immer für eine eher akademische Überlegung, weil man irgendwann später die Rechnung dafür bezahlen muss, sich zu ungesund ernährt zu haben. Beim
Imbiss zur Mittelpromenade
aber wird sofort kassiert. Da sind Cholesterinwerte in zwanzig Jahren keine Bedrohung, sondern Verheißung. Weil man damit rechnen darf, dieses Alter überhaupt zu erreichen.
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