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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition)
Autoren: Stephen Fry
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hartnäckigen Kobold einfach irgendwie zur Ruhe bringen.
     
    AMNESIEOPFER INS ADDENBROOKE’S EINGELIEFERT
     
    Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich überhaupt damit abgebe, sagte ich mir. Es ist doch einfach lächerlich. Das kann nur ein armer alter Penner sein, der mal ein Dach über dem Kopf haben wollte. Warum ich überhaupt …
     
    Gestern abend wurde ein Student des St. John’s College ins Addenbrooke’s Hospital eingeliefert, nachdem Polizisten den desorientierten jungen Mann am frühen Morgen auf dem Marktplatz aufgegriffen hatten. Einer vorläufigen Untersuchung zufolge war er stocknüchtern, wußte aber nicht, wer er war. Drogentests fielen negativ aus. Das Auffällige an dem Fall ist, daß der am St. John’s recht bekannte Student (dessen Name ungenannt bleiben soll, solange seine Angehörigen nicht benachrichtigt worden sind) aus Yorkshire stammt, plötzlich jedoch mit »absolut makellos amerikanischem Akzent« spricht, wie ein Zeuge zu Protokoll gab. Ein Sprecher des Addenbrooke’s sagte heute morgen …
     
    Mit fliegender Hast blätterte ich im Telefonbuch.
    »Addenbrooke’s Hospital?«
    »Der Student«, sagte ich atemlos. »Der Student, der gestern abend eingeliefert wurde. Der Amnesiepatient. Ich muß ihn sprechen.«
    »Sind Sie mit ihm befreundet?«
    »Ja«, sagte ich. »Sehr gut sogar.«
    »Einen Moment bitte, ich verbinde …«
    »Butterworth-Station.«
    »Kann ich bitte den Studenten sprechen?« bat ich. »Den Amnesiepatienten?«
    »Sind Sie mit ihm befreundet?«
    »Ja!« Ich schrie fast. »Ich bin sein bester Freund.«
    »Und wie heißen Sie bitte?«
    »Young. Kann ich ihn sprechen?«
    »Ich fürchte nein. Er hat das Krankenhaus vor einigen Stunden auf eigene Verantwortung verlassen.«
    »Wie bitte?«
    »Wenn Sie wirklich sein bester Freund sind, dann überreden Sie ihn doch bitte zurückzukommen, falls er sich bei Ihnen meldet. Er braucht dringend ärztliche Behandlung. Unsere Durchwahl lautet …«
    Den Rest sparte ich mir, schnappte meine Schlüssel und rannte in die Diele.
    Es war so einfach. Das war es, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte.
    So einfach. Der ganze wirbelnde Tornado der Geschichte verdichtete sich auf einen einzigen Punkt, der wie ein unendlich fein angespitzter Bleistift über der Seite der Gegenwart schwebte. Und dieser Punkt bedeutete etwas so Einfaches.
    Er bedeutete Liebe. Es gab einfach nichts anderes. Der ganze Zorn, die ganze Wut, Gewalt und Wucht des Strudels, der soviel Hoffnung verschlang und so viele Menschen in alle Winde zerstreute, all das verdichtete sich jetzt zur Liebe.
    Mir fiel eine Geschichte ein, die Leo mir vor langer Zeit erzählt hatte. Eine Geschichte von Vater und Sohn, die beide kurz vor dem Ende Gefangene in Auschwitz waren. Sie waren übereingekommen, von ihren winzigen Essensportionen immer nur die Hälfte zu essen. Den Rest wollten sie verstecken und für den unausweichlich näherrückenden Tag aufsparen, an dem man sie auf den Todesmarsch nach Deutschland schicken würde.
    Eines Abends kehrte der Sohn vom Arbeitsdienst zurück, und der Vater nahm ihn beiseite.
    »Mein Sohn«, sagte er. »Ich habe etwas Schlimmes getan. Wir haben doch das ganze Essen gespart …«
    »Und? Was ist damit?« sagte der Sohn, dem nichts Gutes schwante.
    »Gestern ist ein Ehepaar angekommen. Sie haben es irgendwie geschafft, ein Gebetbuch einzuschmuggeln. Im Tausch für dieses Gebetbuch habe ich ihnen unsere Vorräte gegeben.«
    Und was machte der Sohn daraufhin? Er umarmte seinen Vater, und beide weinten vor Liebe. Und an jenem Abend, dem Vorabend des Passahfests, lasen Vater und Sohn aus dem Gebetbuch vor, und die ganze Baracke zelebrierte eine Sederfeier.
    Ich weiß nicht, warum mir diese Geschichte einfiel, während ich in die Diele stürzte. Ich hätte mich ebensogut an Geschichten erinnern können, wo Söhne ihre Väter für ein Glas Wasser umgebracht hatten. Nicht jede wichtige Geschichte ist eine kitschige Gutenachtgeschichte, die von Güte erzählt, die in der Finsternis erstrahlt.
    Aber sie erinnerte mich an den Sinn des Ganzen. An das einfache Telos der Geschichte, aller Gewalt – und aller Geschichte – zum Trotz.
    Heute. Liebe. Das war alles.
    Früher wollte ich bloß meinen Spaß haben, aber das war vorbei. Das war Geschichte. Vielleicht würde es nicht klappen. Vielleicht würde es schiefgehen. Aber das war die Zukunft.
    Heute. Liebe.
    Ich hatte gerade die Tür geöffnet und wollte aus dem Haus preschen, als das Telefon klingelte.
    Zehn
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