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Germinal

Germinal

Titel: Germinal
Autoren: Emile Zola
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unablässige Steigen des Wassers. Wenn es ihren Mund erreichte, war es aus. Die Lampe, die sie aufgehängt hatten, warf ein fahles, gelbes Licht auf die sich kräuselnde Wasserfläche; das Licht ward immer blasser; sie sahen bald nur einen Halbkreis, der immer kleiner ward, gleichsam verzehrt von dem Schatten, der mit der Flut zu wachsen schien. Plötzlich waren sie in Dunkel gehüllt, die Lampe war erloschen, nachdem sie den letzten Tropfen Öl aufgesogen hatte. Es war vollständige Nacht; die Nacht der Erde, wo sie schlafen würden, ohne jemals die Augen im Sonnenlichte wieder zu erschließen.
    »Donner Gottes!« fluchte Etienne.
    Katharina suchte Schutz an seinem Körper, als habe sie die Finsternis sie umfangen fühlen. Mit leiser Stimme flüsterte sie das Wort der Bergleute:
    »Der Tod löscht die Lampe aus.«
    Doch angesichts dieser Drohung erwachte ihr Lebenstrieb von neuem. Etienne begann mit dem Haken der Lampe heftig die Wand zu bearbeiten, um sie auszuhöhlen, und sie half ihm bei dieser Arbeit mit ihren Fingernägeln. In dieser Weise stellten sie eine Art erhöhter Bank her, und als beide diese erklettert hatten, saßen sie daselbst mit hängenden Beinen und gebeugten Rücken, denn die Wölbung zwang sie den Kopf zu neigen. Das Wasser benetzte jetzt nur ihre Sohlen; aber bald fühlten sie seine eisige Kälte an den Knöcheln, an den Waden, an den Knien in unbesieglicher und unablässiger Bewegung. Die unebene Bank bedeckte sich mit einer dermaßen glitschigen Nässe, daß sie sich fest anklammern mußten, um nicht hinabzugleiten. Es war das Ende; wie lange würden sie aushalten können in dieser Nische, die ihr letzter Zufluchtsort war und wo sie nicht eine Bewegung zu machen wagten, erschöpft, ausgehungert, ohne Brot und ohne Licht? Sie litten hauptsächlich durch die Finsternis, die sie hinderte, den Tod kommen zu sehen. Es herrschte eine tiefe Stille; in der ersäuften Grube regte sich nichts mehr. Sie fühlten jetzt unter ihren Füßen nichts mehr als dieses Meer, dessen stumme Flut aus den Tiefen der Galerien unablässig genährt wurde.
    Es folgten Stunden auf Stunden in gleichmäßiger Düsterheit, ohne daß sie imstande gewesen wären, ihre Dauer zu ermessen, weil sie in der Berechnung der Zeit immer mehr irre wurden. Ihre Qualen ließen ihnen die Minuten rasch dahinschwinden, anstatt sie ihnen zu verlängern. Sie glaubten erst seit zwei Tagen und einer Nacht eingeschlossen zu sein, während in Wirklichkeit schon der dritte Tag zu Ende ging. Alle Hoffnung auf Hilfe war geschwunden; niemand wußte, daß sie da seien; niemand hatte die Macht hierher zu gelangen; wenn die Überschwemmung sie nicht verschlang, mußten sie vor Hunger umkommen. Ein letztes Mal waren sie auf den Einfall gekommen, den Anruf zu pochen; allein das Stück Sandstein war unten geblieben. Wer würde sie übrigens hören?
    Katharina hatte ihr schmerzendes Haupt mutlos an die Wand gelehnt, als sie plötzlich erbebte und sich aufrichtete.
    »Horch!« sagte sie.
    Zuerst glaubte Etienne, sie spreche von dem leisen Geräusch der steigenden Flut. Er log, um sie zu beruhigen.
    »Mich hörst du; ich bewege die Beine.«
    »Nein, nein, nicht das... Da unten, horch!«
    Und sie drückte das Ohr an die Kohlenwand. Er begriff und tat wie sie. Beklommenen Herzens harrten sie einige Sekunden. Dann hörten sie aus weiter Ferne drei Schläge, sehr leise und in großen Zwischenräumen. Aber sie zweifelten noch; ihre Ohren klangen; es war vielleicht ein Krachen in der Schicht. Sie wußten nicht, womit sie pochen sollten, um zu antworten.
    Etienne hatte einen Einfall.
    »Du hast deine Holzschuhe; hebe die Füße und poche mit den Absätzen.«
    Sie pochte, schlug den Anruf der Bergleute; und sie horchten und unterschieden abermals drei Schläge aus der Ferne. Zwanzigmal begannen sie von neuem, und zwanzigmal kam die Antwort. Sie weinten vor Ergriffenheit und umarmten sich, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Endlich waren die Kameraden da; endlich kamen sie. In dem Überströmen ihrer Freude und ihrer Liebe schwanden die Qualen des Harrens, die Wut über die lange vergebens wiederholten Anrufe, als ob die Retter mit dem Finger hatten den Felsen spalten können, um sie zu befreien.
    »Ist es nicht ein Glück, daß ich den Kopf an die Wand gelehnt habe?« rief sie fröhlich aus.
    »Du hast ein feines Ohr!« antwortete er. »Ich habe nichts gehört.«
    Von diesem Augenblicke an lösten sie einander ab; immer horchte einer, bereit auf das
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