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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition)
Autoren: Harald Gilbers
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Zeit davor hatte die Gestapo noch mit eiserner Hand durchgegriffen. Auch Oppenheimer war nicht davon verschont geblieben. Vor knapp zwei Jahren hatte ihn einer der sogenannten Hundefänger der Gestapo in der U-Bahn erwischt und mitgenommen, um seine Personalien zu prüfen. Damals hatte Oppenheimer aus Trotz beschlossen, diese ganze Chose nicht mehr mitzumachen. Er hätte wie so viele andere zum Reichssippenamt des Innenministeriums pilgern können, beladen mit alten Photographien, Familienurkunden und anderen Unterlagen, um irgendwie nachzuweisen, dass die Familienähnlichkeit nicht sonderlich ausgeprägt war. Wenn man ein sogenanntes Kuckuckskind war, oder besser noch adoptiert, konnte man hoffen, als Halb- oder Vierteljude eingestuft zu werden. Doch Oppenheimer hatte dies gar nicht erst in Erwägung gezogen, sondern stattdessen eine Möglichkeit gesucht, um sich unauffällig des Judensterns zu entledigen.
    Als er sich nun der Siegessäule näherte, war für ihn der Moment gekommen, um sein ganz persönliches Arisierungsverfahren zu vollziehen.
    Am Großen Stern bog er nach links ab. Generalbauinspektor Albert Speer hatte zusammen mit dem gigantischen Pfeiler auch gleich das Bismarckdenkmal hierher versetzen lassen. In Bronze gegossen, stand der erste deutsche Reichskanzler abseits des Kreisverkehrs auf seinem roten Granitpodest, flankiert von den Statuen seiner ranghöchsten Militärs Roon und Moltke. Jeder dieser Feldherren hatte seinen eigenen Erker bekommen, der durch eine halbhohe steinerne Mauer von der umliegenden Parkanlage abgegrenzt wurde. Heute wählte Oppenheimer das Denkmal von Albrecht Graf von Roon aus.
    Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, begann er, gemächlich den Sockel zu umrunden, schaute hinauf zum Grafen, dessen starres Antlitz mit den dämonischen Augenbrauen und dem spitzen Bart an einen Provinzschauspieler in der Rolle des Mephistopheles erinnerte, hätte der Porträtierte nicht eine Prunkuniform getragen und den Helm lässig auf seine Hüfte gestemmt. Die Rückseite des Sockels war breit genug, um sich dahinter zu verbergen. Mit einem herzhaften Ruck entfernte Oppenheimer den provisorisch angenähten Judenstern und steckte ihn in seine Innentasche. In Berlin taten dies viele Sternträger, weil sie wussten, dass sie von der Anonymität der Großstadt geschützt wurden.
    Als er wieder hinter dem Denkmal hervortrat, hätte niemand auf diesen Herren mittleren Alters geachtet, denn ohne den Stern war Oppenheimer perfekt getarnt. Keiner sah ihm an, dass er eine Kennkarte hatte, auf der ein großes J für Jude stand, und dass er seit ein paar Jahren zwangsweise den zusätzlichen Vornamen Israel trug. Jeder Passant hätte geschworen, dass Richard Israel Oppenheimer nichts anderes sein konnte als ein waschechter Arier.
    Oppenheimers Verhältnis zum jüdischen Glauben war schon seit frühester Jugend ambivalent. Obwohl seine Eltern auf Religion keinen großen Wert gelegt hatten, feierte selbstverständlich auch er mit dreizehn Jahren die Bar Mizwa. Die Zeremonie in der Synagoge, bei der jüdische Knaben die religiösen »Pflichten eines Mannes« übernehmen und Vollmitglieder der Gemeinde werden, gefiel dem jungen Oppenheimer; dass er aus diesem Anlass vor der versammelten Gemeinde aus der Tora vorlesen durfte, gefiel ihm sogar noch viel mehr. Doch als er in den vorangegangenen Monaten Gottes sechshundertdreizehn »ernste Verpflichtungen und unausweichliche Lasten«, die Mizwot, lernen musste, rebellierte er. Vielleicht sah er in einigen dieser Vorschriften keinen Sinn, vielleicht war ihm die Einhaltung der Mizwot auch nur zu umständlich – Oppenheimer konnte es sich im Nachhinein selbst nicht genau erklären. Jedenfalls wurde aus den Zweifeln Skepsis und aus der Skepsis später Abneigung gegen jegliche Art von Religion. Oppenheimer war ein geborener Zweifler, der zu viel gesehen hatte, um noch an die Existenz eines Gottes glauben zu können.
    Als er beim Potsdamer Platz angelangt war, konnte er erkennen, wo die heutige Bombardierung die größten Schäden hinterlassen hatte. Da parallel zur Saarlandstraße eine undurchdringliche Rauchwand in der Luft hing, folgerte er daraus, dass wohl vor allem die Wilhelmstraße betroffen war.
    Am Anhalter Bahnhof liefen aus der Richtung des Hochbunkers Frauen auf die Brände zu. Mit Kopftüchern und geschulterten Spaten marschierten sie paarweise in einer langen Reihe. An ihrer Kleidung konnte Oppenheimer einen blauen Aufnäher
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