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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition)
Autoren: Harald Gilbers
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mit dem weißen Schriftzeichen Ost erkennen – es handelte sich also um Ostarbeiterinnen.
    Vor knapp drei Wochen, als sich Hitlers Geburtstag jährte, der überall in Deutschland wie gewöhnlich mit großem Pomp und Trara begangen wurde, hatte die Furcht der Berliner Bevölkerung ihren Höhepunkt erreicht. Wie vom Propagandaministerium verordnet, hingen an diesem Tag unzählige rote Hakenkreuzflaggen aus den Fenstern. Einige Scherzbolde hatten sogar die zahlreichen Schutthaufen mit roten Papierfähnchen geschmückt. Doch kaum jemand nahm Notiz davon, wie sie im Wind raschelten, denn die Straßen waren längst leer. Wer immer es sich leisten konnte, hatte sich in überfüllte Züge gequetscht, um dem befürchteten Luftangriff zu entkommen. Es zeigte sich jedoch, dass sich die Strategen in den Hauptquartieren der Royal Air Force anscheinend nicht um Petitessen wie des Führers Wiegenfest kümmerten. Das Geburtstagsgeschenk in Form von mehreren Tonnen Explosivstoff blieb aus, und so war der Tag entgegen aller Erwartung ruhig verlaufen.
    Der große Schlag folgte dann am Samstag vergangener Woche.
    Als Oppenheimer die Halle des Anhalter Bahnhofs durchquerte, sah er, welch große Fortschritte die Aufräumarbeiten seitdem gemacht hatten. Es war kaum noch zu erkennen, dass während des Luftangriffs ein führerloser Schnellzug in vollem Tempo und mit brennenden Waggons auf den Kopfbahnhof zugehalten hatte. Wie ein flammendes Geschoss war der Zug in die Bahnhofshalle gerast, hatte dabei den Prellbock durchschlagen und den Bahnsteig vor den Gleisen umgepflügt. Doch die Überreste des Zuges hatte man bereits wieder entfernt und die klaffende Schneise im Pflaster mit neuen Steinen abgedeckt.
    Am Ausgang zur Möckernstraße musste sich Oppenheimer durch eine Menschentraube drängen. Unter den Steinbögen des Vordaches standen die Ausgebombten, bei sich die Habseligkeiten, die sie während des letzten Angriffs aus ihren zerstörten Wohnungen hatten retten können. Kinder, die vor Schreck verstummt waren, unzählige Koffer und Taschen, dazwischen ein Greis in einem Schaukelstuhl – ein Panoptikum privater Katastrophen.
    »Die Vergeltung musste ja kommen.« Apokalyptische Inbrunst schwang in der Stimme des Alten. »War doch klar, die Engländer lassen Coventry nich auf sich sitzen.«
    »Lass sein, Vater«, beschwichtigte seine Tochter und blickte sich verstohlen nach Denunzianten um. Sicherheitshalber fügte sie noch hinzu: »Weiß doch jeder, dass die Engländer mit dem Bombenschmeißen angefangen haben.«
    Ein Passant mit grauem Filzhut versuchte, in den Bahnhof zu gelangen. »Also bitte, meine Herrschaften! Hier müssen auch noch Leute durch! Vielen Dank.«
    »Warten Sie nur ab, bis unsere Roboter-Flugzeuge angreifen«, sagte ein vielleicht zwölfjähriger Pimpf. Stolz prangte auf seiner Brust das kreisförmige Abzeichen des Deutschen Jungvolks. »Sie werden schon sehen, wie wir zurückschlagen.«
    »Hoffentlich wird unsere Wunderwaffe bald fertig«, sekundierte ein weiterer Junge mit dem gleichen Abzeichen. »Wird langsam Zeit, es den Schweinehunden zu zeigen.«
    »Jetzt redet keenen Kohl«, ereiferte sich der Alte. »Ihr habt doch jesehn, wat passiert is. Diese Terrorbomber kommen jetzt schon bei Tag. Bei Tag! Womit sollen wir denn gegenhalten?«
    »Unsere Jäger konnten doch nicht hoch, wegen den Wolken«, erklärte einer der Pimpfe fachmännisch.
    Wieder wollte der Alte etwas sagen, als ihn seine Tochter sanft, aber bestimmt zurück auf die Sitzfläche des Schaukelstuhles drückte. »Jetzt sei aber still!« Unsicher blickte sie zu den Jungen hinüber, als wolle sie sich für die Äußerungen des Alten entschuldigen. Doch dieser ließ sich nicht den Mund verbieten.
    »Mir kann keener mehr wat. Is eh alles futsch! Alles!«
    Dies war das Letzte, was Oppenheimer von dem Streit vernahm. Es gab genügend Leute, die einen Groll gegen Hitler hegten. Hilde hatte berichtet, dass man sich im Ausland zunehmend darüber wunderte, dass die Bombardierungen nicht den Widerstandsgeist des deutschen Volkes geweckt hatten. Es wurde gemeckert, doch weiter ging es nicht.

    Hildegard von Strachwitz besaß ein großes Wohnhaus am Rand von Schöneberg. Ihr Onkel, ein Offizier der kaiserlichen Marine, hatte es um die Jahrhundertwende errichten lassen. Der kinderlose Mann hatte Hildegard als Alleinerbin eingesetzt, da sie sich in den letzten Jahren aufopferungsvoll um dessen Pflege gekümmert hatte und ohnehin die einzige Verwandte war, die sich
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