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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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Schöpfung selbst das geringste Tierchen den zwanzigjährigen Jünglingen glich, und denselben Versuchungen zur Beute fiel; die ganze Natur trug das Zeichen dieser Erbsünde. Unter dem honigreichen Laubmerk der Lindenbäume verfolgten sich prächtige, perlmutterglänzende Schmetterlinge, zu zwei und zwei; grüne Libellen schaukelten sich paarweise auf den Stengeln der Weiden, und jenseits der Hecke küßten die Schnitter die Schnitterinnen ohne jede Scheu im hellen Sonnenschein. Ich weiß nicht, ob der Chevalier diese Dinge sah, und ob sie Eindruck auf ihn machten, aber er gab Bruno einen kräftigen Peitschenhieb in die Weichen. Das Tier setzte sich in Trab und hielt erst auf den Brachen von Saronnières wieder an, um auszuschnaufen. Die Sonne stand schon hoch und goß ihr goldenes Licht über eine abwechslungsreiche ländliche Landschaft. Ueber den schattigen Gründen der Schlucht von Saronnières wogte noch ein leichter Nebel, doch gegenüber, auf den Hochebenen und Abdachungen, war alles voll fröhlichen, blendenden Lichtes, Zwischen zwei Baumgruppen sah man wie durch einen leichtenDunstschleier die Häuser Juvignys, die sich staffelförmig den Hügel hinaufzogen und deren rote Dächer einen kräftigen Gegensatz bildeten zu dem dunklen Grün der Gärten; die Fensterscheiben blitzten herüber, und über dem entweichenden Rauch hoben sich die Spitzen des Glocken- und des Sankt Stephanturmes hell von dem reinen Blau des Himmels ab. Jenseits der Stadt Weinberge und wieder Weinberge – eine weite Fernsicht auf grünende, wellenförmige Hügel, bis zu den großen Wäldern der Argonnen, die sich in weiter Ferne bläulich hinzogen und die äußerste Grenze des Horizontes bildeten. Und durch den lichten Sonnenschein und die durchsichtige Luft klangen die klaren, vollen Töne der Glocken von Juvigny herüber. Der Chevalier ließ Bruno ausruhen und genoß mit Wonne diese Harmonie der Außenwelt. Diese Gegend war seine Heimat; von Kindheit auf hatte er ihre kräftige Luft geatmet, und er bewunderte sie mit patriotischem Stolz. Die Aussicht auf die in Duft gehüllten Wälder und die Weinberge voll zirpender Heuschrecken, der Anblick der alten Häuser der oberen Stadt und das Geläute der nämlichen Glocken, die schon zu seiner Taufe erklangen, erinnerten ihn ohne Zweifel an die Zeit, in der auch er noch jung gewesen, in der auch er ein weiches, der Versuchung zugängliches Herz besessen hatte. Er fühlte sich besänftigt und wie von einem inneren Taubad erfrischt. Einen Augenblick wurde der strenge Edelmann weich und kehrte zu menschlicheren Gefühlen zurück. »Vorwärts!« seufzte er und gab Bruno die Sporen, »ich werde den Jungen verheiraten müssen ... es ist höchste Zeit!«
    Gérard verheiraten! Dies war der Gegenstand seines Nachdenkens während des Mittagmahles. Der junge Mann hatte sich aus Angst vor dem väterlichen Zorn wohl gehütet, zurückzukommen. Herr von Seigneulles beschleunigte seine Mahlzeit und ging dann zu einer ihm befreundeten Witwe, Frau von Travanette, in die untere Stadt hinab. Das Haus der Witwe ist in der Gegend berühmt wegen seiner hübschen,mit einem Geländer aus Schmiedeisen versehenen Freitreppe und seiner aus dem sechzehnten Jahrhundert stammenden Vorderseite mit den kunstvollen steinernen Schnauzen an den Dachrinnen. Dieses Haus war damals der einzige Vereinigungspunkt der wenigen Ueberbleibsel des alten am Ort ansässigen Adels. Jeden Tag von ein bis vier Uhr spielten die Freunde der Witwe abwechslungsweise Tricktrack mit ihr. Als Herr von Seigneulles in das altmodische, mit Eichen getäfelte und mit einer flandrischen Baumtapete bekleidete Empfangszimmer trat, sah er den Abbé Volland schon neben der guten Dame sitzen. In dem bläulichen Zwielicht, das durch die halbgeschlossenen Fensterläden entstand, inmitten dieses großen, mit verblichenen Möbeln und trübgewordenen Vergoldungen ausgestatteten Gemaches bildeten diese beiden Personen ein liebenswürdiges, anziehendes Familienbild. Frau von Travanette saß, in bräunliche Seide gekleidet, trotz ihrer siebzig Jahre, aufrecht in ihrem Lehnsessel; sie zeigte unter ihren falschen, schwarzen Haaren ein vertrocknetes, galliges Gesicht und strickte emsig an einem großen wollenen Strumpf.
    Auf die Arme seines Lehnstuhles gestützt, blinzelte der Abbé Volland, Pastor von Sankt Stephan, leicht mit den Augen, während er den vertraulichen Mitteilungen der alten Dame lauschte. Der Abbé war ein kleiner, dicker Mann mit kurzen, fleischigen
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