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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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hat, wieder gut zu machen?«
    »Man kränkt die Menschen nicht dadurch, daß man sie liebt,« antwortete sie mit trübem Lächeln, »und das Unrecht, von dem Sie reden, ist nur ein eingebildetes.«
    »Eingebildet? Doch wohl nicht ganz; da es Sie gezwungen hat, Juvigny zu verlassen.«
    »Meine Abreise war längst geplant, ich habe sie nur um einige Wochen beschleunigt.«
    »Aber, als Sie abreisten, waren Sie ... kompromittiert.«
    »In den Augen einiger Leute, die mich hassen, mag das sein; aber in meinen eigenen und den Augen meiner Freunde keineswegs ... Und warum auch? Weil ich jemanden ehrlich geliebt, mich entfernt habe, um nicht die Veranlassung zu Uneinigkeiten in der Familie dessen zu sein, den ich liebte, darum sollte ich kompromittiert sein? Nein, Herr Baron, mein Gewissen ist ruhig und meine Ehre ist unversehrt!«
    »Ich bitte um Vergebung, Ihre Freunde in Juvigny denken aber anders.«
    »Und was kann man denn anderes denken?« rief Helene erstaunt aus.
    »Man behauptet,« begann er ... aber die Sache war nicht so leicht zu erklären; er hielt inne und betrachtete sich einen Augenblick das reizende Antlitz des jungen Mädchens,die kluge Stirne, die klaren, ehrlichen Augen, den geistvollen Mund, der aussah, als ob nie eine Lüge über seine reinen und entschlossenen Lippen gekommen sei. Der arme Chevalier wurde immer verlegener. »Verzeihen Sie,« fuhr er mit möglichst sanfter Stimme fort, »wenn ich diesen zarten Gegenstand berühre, aber ich bin hieher gekommen, um offen zu reden. Man ist in Juvigny überzeugt – ich erröte es auszusprechen –, daß Gérard sich nicht gescheut habe, Sie ernstlich zu kompromittieren, und daß Sie nur die Stadt verlassen haben, um einen Fehltritt zu verbergen ...«
    Während er sprach, schienen sich Helenens Augen übermäßig zu vergrößern; erst errötete sie, dann wurde sie plötzlich sehr bleich, ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre blassen Lippen zitterten. Da sie kein Wort hervorbringen konnte, bat sie den Chevalier durch eine Bewegung innezuhalten: dann setzte sie sich mit verstörtem Gesicht und starren Blicken an den Tisch. – »Ich? ... Ich?« flüsterte sie. Herr von Seigneulles betrachtete sie unruhig und fing an zu bereuen, daß er so hart zu ihr gesprochen hatte. Angesichts der Barrikaden anno 1830 hatte sich der alte Gardeoffizier entschieden wohler gefühlt, als jetzt allein mit diesem gebrochenen jungen Mädchen und ihrem stummen Jammer. In dem Ausruf Helenens hatte eine solche Aufrichtigkeit gelegen, aus all ihren Zügen sprach eine solche Rechtschaffenheit, daß der Chevalier sich schämte, den Klatschereien Juvignys so leicht geglaubt zu haben.
    »Fräulein,« wagte er schüchtern zu sagen.
    Helene schreckte zusammen. – »Ach Vater, armer Vater!« rief sie aus. – Bei dem Gedanken an die Verzweiflung Herrn Laheyrards, wenn er diese Verleumdung erfuhr, brach sich der Schmerz, den sie hatte unterdrücken wollen, mächtig Bahn. Ihre Brust hob sich, ihre Augen wurden feucht, und sie brach in Schluchzen aus. Es war wie ein ungezügelter Kinderschmerz, eine Thränenflut, die nicht enden zu wollen schien. Herr von Seigneulles war von dem Anblick ihrer Verzweiflung aufs tiefste erschüttert. Er erinnerte sich desNachmittags, wo er Zeuge der Zärtlichkeit zwischen Vater und Tochter gewesen, und dachte daran, wie rührend ihm diese Liebe erschienen war, und er verstand, welche schmerzliche Angst sich in dem Schrei Helenens Luft gemacht hatte. »Ihr erster Gedanke galt ihrem Vater,« sagte der Chevalier zu sich selbst, »ich habe sie entschieden falsch beurteilt.« Er näherte sich ihr mit reuevoller Miene. In demselben Augenblick fiel das hübsche, blonde Haupt Helenens von dem übergroßen Kummer gebeugt nach hinten, und Herr von Seigneulles fürchtete eine Ohnmacht. Ganz fassungs- und ratlos kniete der unbeugsame Chevalier vor dem jungen Mädchen nieder, und plötzlich neigte er sein graues Haupt und drückte mit der zärtlichsten Sorge, die nur ein Vater für sein krankes Kind haben kann, einen Kuß auf die Hand von Fräulein Laheyrard.
    »Verzeihung!« sagte sie unter Thränen, »es hat mich übermannt ... Der Schlag war so heftig und so unerwartet! Ich dachte gleich daran, wie weh diese Bosheit meinem Vater thun würde ... Ich bin wohl sehr leichtsinnig gewesen, daß man so etwas hat denken können? Ich bitte Sie, glauben Sie nicht, daß ich mich hätte so vergessen können. Die Liebe Ihres Sohnes für mich war immer ebenso zärtlich wie
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