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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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eine krächzende Stimme hinter ihr. »Und kein Mensch außer mir weiß, warum.«
    Laura erhob sich hastig.
    »Ich bin Gallagher.«
    Gallagher trug eine zerlumpte New Yorker Polizistenjacke und eine Polizeimütze, die von Taubenkot und – vermutlich – Taubenblut besudelt war. Blut jedenfalls. Sein Gesicht bestand aus Knochen, Zähnen, dürrem, eingefallenem Fleisch. Er trug Kriegsauszeichnungen, die mit Reißnägeln auf die Brustrippen geheftet waren, und man sah die Umrisse seines Herzens unter dem Brustkorb. Gallaghers Augen waren die eines Dreizehnjährigen.
    »Wo ist mein Mann?« fragte Laura.
    »Ist schwer zu sagen«, antwortete Gallagher abwesend, »der Angriff kam von den Friedenstauben, ein Präventivkrieg sozusagen –«
    »Wo ist mein Mann?« wiederholte sie.
    »Steht dort drüben.«
    David hielt den Blindenstock unter den Arm geklemmt, ein Buch in der Linken und ließ den Zeigefinger über die Brailleschrift gleiten.
    »David!« schrie Laura glücklich. »Wer hat die Schlacht gewonnen?«
    »Gallagher hat gewonnen. Doch das war nur der Anfang. Die Friedenstauben werden nun von überall her kommen. Von überall. Es wird schwer werden, in dieser Stadt zu leben, noch schwerer. Selbst die Tauben werden gewalttätig.«
    Laura spürte den Hauch der Engel hinter sich, ein Hauch, der kälter als der Winter war.
    »Hör mich an«, sagte sie. »Drei Engel stehen hier auf dem Dach: Yahriel, Ichadiel und Elimiel. Sie haben mich gerettet. Verneige dich!«
    »Ich verneige mich vor den drei Engeln des Mondes«, sagte David, »ich habe viel über sie gelesen.«
    »Wir fliehen nun mit ihrer Hilfe nach Italien. Komm!«
    »Ich weiß nicht.« Seine Stimme klang verlegen.
    Laura unterdrückte einen Wutschrei.
    »Soll ich vielleicht allein und schwanger in meine Heimat zurückkehren oder in drei Wochen in einem Alitalia-Flugzeug eine Frühgeburt kriegen?« stieß sie hervor. »Man muß sich schämen vor den Engeln da!« Diesmal unterdrückte sie eine abschließende Fluchkanonade.
    Die Flügel der drei Engel begannen zu rotieren, so wuchtig wie die Propeller von zwölf Hubschraubern.
    Taubenflaum und Schneeflocken wurden in zwei Sekunden weggefegt – ja und nur Augenblicke später auch die Kadaver der Tauben, die irgendwo in Brooklyn auf Straßen und Dächer niedersausten, eine veraltete Schlacht auf neuen Schlachtfeldern.
    »Und Lucia?« fragte, nein, schrie David in ihr Ohr: »Und Lucia?«
    »Unsere Engel lösen alle Probleme«, schrie Laura und begann zu weinen über ihre Vergeßlichkeit und Undankbarkeit.
    »Umarme mich, Liebster, umarme mich, halte mich noch einmal fest, bitte, bitte!« gellte sie durch den unvorstellbaren Orkan der himmlischen Flügel, die dereinst den Trompeten und Fanfaren des Jüngsten Gerichts voransausen sollten, blätterlose Wälder niederreißend, die Ozonschichten zerreißend, so daß die Meere verdampften. »Umarme mich fest!«
    David gehorchte, sein Blindenstock pfeilte wie ein Speer durch die Luft; Lauras Hände klammerten sich an seine Kleider, umfaßten dann seinen Brustkasten. Und die Kraft der drei Engel fügte die zwei zusammen als Mann und Weib, wobei mehrere Rippen Davids knackten.
    »Italia!« schrie Laura. »Italia! Italia! Cara Italia!«
    Die Flügel einer Fliege bewegen sich in drei Tausendstel einer Sekunde. So lange dauerte der Flug nach Lucca, Italien.
    Als die Engel die beiden in Lucca landen ließen, schneite es auch dort.
    »Und Lucia?« fragte David Dublin Delaware ungerührt.

SIEBENUNDZWANZIG
    Lucia stand in einer Ecke der Wohnung an der 33. Straße. Sie war nackt, ihre Handgelenke waren mit einem Seidenschal zusammengebunden, ein zweiter Seidenschal war zwischen ihre Zähne geklemmt, um sie am Schreien zu hindern. Naoya Ayakara saß schnaufend und mit geschlossenen Augen in einem Sessel, dem einzigen Möbelstück, das er bisher verschont hatte. Alles war zertrümmert, selbst der Flügel, dieses pompöse Musikgerät. Schwarzlackierte Holzstücke lagen auf einem Haufen, als wären drei Särge zersägt worden, und die Tasten lagen auf dem Teppich wie Dominos.
    Ayakara war Karatemeister.
    Was nicht Holz war, hatte er zerbogen; metallene Stuhlbeine ähnelten gigantischen Korkenziehern; die Spannteppiche waren zerfetzt und die Wände von ihren Tapeten enthäutet. Mörtel bröckelte herab. Selbst die Badewanne war nicht verschont geblieben. Ayakara hatte sie in Marmorabfall verwandelt.
    Wasser gurgelte aus dem Hahn, überfloß die Türschwellen, überschwemmte Zimmer für Zimmer,
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