Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
Vom Netzwerk:
beachtete. Sie trugen zu Ehren Hirohitos, der zwei Tage zuvor endlich gestorben war – ja, sie trugen noch immer Zylinder, und ihr ganzes Interesse galt dem Kunstwerk auf Lauras beiden Rundungen.
    Eine tiefe Stimme gab einen Befehl, langsam, gelangweilt beinahe, und Laura spürte, daß Dutzende von Männern den Raum verließen. Es roch nach Karnickelmännchen.
     
    Akiro Natsuki und Kazuo Iamashi, die beiden alten Herren, die sich als Nachkommen der alten japanischen Kriegerkaste verstanden, verbeugten sich, lächelnd und stumm. Sie sahen in Smoking und Zylinder etwas komisch aus.
    Natsuki begann als erster zu reden:
    »Sie erinnern sich, Miss Granati, es war unsere Verabredung, daß Sie sich jeden Freitag bei uns melden. Zu unserer Freude haben Sie das nicht getan.« Er schwieg.
    Iamashi fuhr fort: »Wir wollten Ihnen die Freude am Höhepunkt Ihres Lebens nicht verderben. Ich hoffe, Sie anerkennen diese Großmütigkeit.«
    Und dann nahm Natsuki das Wort wieder auf, eine Litanei fast, er sagte: »Freude läßt auch die Haut gut durchbluten, besonders die junger Frauen. Deshalb sind wir nicht unfroh wegen Ihres Versuchs, uns zu hintergehen. Es kam auch nicht unerwartet.« Er lächelte.
    Iamashi, dessen Gesicht sich inzwischen verfinstert hatte, nahm das Lächeln seines Kollegen wie in einer Stafette wieder auf: »Wir hatten nie im Sinn, Ihren Tod abzuwarten, Miss Granati. Die Haut von Toten nimmt nämlich in kurzer Zeit, Leichenstarre und all das, einen bläulichen Ton an, der das Hautkunstwerk nicht unerheblich schädigt.« Verbeugen und Schweigen.
    Natsuki sagte: »Zum Schluß möchten wir Ihnen sagen: Sie sind ein Kunstwerk. Sie haben nicht umsonst gelebt. Die Haut der wunderbaren Hälften wird eines Tages gleichsam die Mona Lisa unseres bereits in New York, Manhattan, geplanten Museums für menschliche Haut sein.«
    »Von innen her beleuchtet. Selbst der Spalt und die beiden Grübchen über den Rundungen werden naturgetreu nachgebildet.«
    »Gnade«, bettelte Laura, »Gnade. Ich trage ein Kind in mir.«
    »Selbstverständlich«, nahm Natsuki das Wort wieder auf, »lassen wir Gnade vor Recht ergehen und die Haut erst nach lokaler Anästhesierung abstreifen.«
    Nach diesen Worten näherten sich ihr die beiden. Jeder umfaßte mit seiner Rechten eine der prallen, erotischen Wangen, befühlte das Fleisch und streichelte es.
    »Jedem die Hälfte«, sagten Natsuki und Iamashi im Chor und wiederholten diesmal: »Jedem seine Hälfte.«
    Schweigen. Schließlich begannen beide zu lachen, wie jemand, der vor fünfzig Jahren die Filme mit Laurel und Hardy gesehen hat, gestorben ist und noch im Grab lacht.
    Laura bekreuzigte sich und flüsterte das Paternoster. Ihre Hände flatterten wie Schmetterlingsflügel.
     
    Es waren nicht nur ihre Hände.
    Auch die Wände flatterten. Sie bebten nicht, nein, sie flatterten. Die Tapeten lösten sich, Stück für Stück. Man hörte das Geräusch des Zerreißens. Hierauf begannen die Möbel zu flattern, die Stuhlbeine und Tischplatten, so als wäre alles aus geschmeidigem, biegsamem Material. Die Decke über dem Raum flatterte wie eine waagrechte Fahne, wie Luftballonhaut.
    Laura bog den Kopf zu den Yakuza-Meistern: ja, nicht nur ihre Kleider flatterten, bis der Stoff riß, selbst die Gesichter Natsukis und Iamashis flatterten, ihre Ohren schienen aus zwei Richtungen bewegt zu werden, als bestünden sie aus Seide. Sie sahen sehr komisch aus, die zwei, und als sie nackt dastanden, flatterte die Haut auf ihren feisten Bäuchen, sie blähte sich, die Haut, löste sich von den Wänsten ab, die ihrerseits bibberten wie Gelee, alles flatterte von ihnen ab, alles. Und dabei ging kein Windstoß. Lauras Haut blieb unberührt makellos.
    Auch die Fensterscheiben flatterten, ohne zu zerbrechen. Es war die Erscheinung der drei Engel des Mondes: Yahriel, Ichadiel und Elimiel – die Schutzengel Omai O'Haras, die gekommen waren, um Laura zu retten.

SECHSUNDZWANZIG
    Laura landete sanft auf dem Dach der Hausruine in der Lower East Side Manhattans, der Taubenfestung jenes Mannes, der Gallagher hieß.
    Sie saß auf einer durchlöcherten Matratze, inmitten toter Tauben, die von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren. Der Schnee fiel noch immer, in zunehmend dickeren Watteflocken.
    Überall lagen tote Tauben. Gerupft, zerbrochene Flügel, zerspellte Schnäbel, ausgehackte Augen, und im Schneewirbel, der nun einsetzte, tanzten unzählige Taubenfedern.
    »Ganz New York ist übersät von toten Tauben«, sagte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher