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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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was zertrümmert war, wieder zusammengesetzt. Die Klaviertasten klimperten zärtlich, die Rohre saugten das Wasser in sich zurück, und die Tapeten folgten mühelos dem abgefallenen und wieder an seinen Platz gefügten Mörtel und klebten sich mit genußvollem Stöhnen über die Wände.
    Das Zwei-Gallonen-Glas mit den roten Ameisen und der Honigtopf waren verschwunden, selbstverständlich.
    Lucia und Ho-Ping, ein zierlicher Chinese, der eigentlich Mathematik studieren wollte, rieben ihre Augen, sahen sich verliebt an und lächelten.
    Wu Ho-Ping war so nackt wie Lucia. Das Schlafzimmer war achtzehn Meter entfernt.
    »Was für ein Hochzeitsgeschenk«, flüsterte Lucia, »die schönste Wohnung in Manhattan. Und so groß. Alle meine Verwandten werden jeweils am Wochenende hierherkommen, alle.«
    »Konfuzius«, klagte Ho-Ping, »und die Hälfte davon spricht Italienisch.«
    »Ich wollte, ich könnte sie verstehen«, sagte Lucia, »ich bin zu faul und zu unbegabt.«
    »Dafür bist du begabt für das, was ich nun mit dir vorhabe.«
    Lucia lachte schallend, und Ho-Ping trug sie ins Schlafzimmer. Seine Potenz war japanisch geblieben, seine Liebestechnik chinesisch geworden.
     
    Die beiden bekamen zwei wundervolle japanische Kinder. Einmal wollte sich Ho-Ping scheiden lassen, weil Lucia sich nicht daran erinnern konnte, woher die wunderbare Tätowierung auf ihrem Klumpfuß stammte, doch er vergaß es wieder, so sehr war er in sein Mathematikstudium vertieft. Und Lucia war glücklich, wenn am Wochenende die italienischen Verwandten die Chinesen vertrieben, aus dem Restaurant vertrieben.
     
    Wir werden zwar nie erfahren, ob es einen Himmel gibt – glauben aber dürfen wir: Es gibt Engel.

ACHTUNDZWANZIG
    Einige der schönsten kleinen Städte Italiens sind vor Hunderten von Jahren gebaut worden, oft mit schützenden Mauern; manche sind auch ohne Mauern, und die Bauern müssen den Hühnern kleine Säcke an den Hintern binden, damit die Eier nicht hügelabwärts rollen.
    Olivenhaine mit silbernem Grün am Rande der Ebene mit den Bohnen- und Maisfeldern und den gelben Kürbissen, die für die Schweine angepflanzt werden, und durch die Artischockenfelder wetzen vor Morgenanbruch Hasen, und wenn der Morgen beginnt, sieht man das Städtchen von weitem in einem bläulichen und zuweilen lavendelfarbigen, graugetönten Licht.
    Viele dieser Orte haben ihre Marienstatue, die am Karfreitag Tränen oder Blut weint oder die hölzernen Lippen zum Sprechen schürzt. Der Ort jedoch, von dem hier die Rede ist, hatte nichts dieser Art.
    Dafür hatte man seit fünf Jahren einen blinden Amerikaner, den alle Leute gern mochten. Er verbrachte den Tag mit Spazieren, ohne Blindenstock, denn er kannte jede Stufe, aber auch jede Stimme, und wußte, wem sie gehörte. Der Mann sprach ein wunderbares Italienisch, das selbst den Dorfpfarrer an Dantes Divina Commedia erinnerte; allerdings stieß der Blinde zuweilen Flüche aus, in englischer Sprache, was den Dorfpfarrer keineswegs störte, im Gegenteil, sie ermunterten seine schmutzige Phantasie; saubere Phantasien gibt es nicht.
    Aber eigentlich kannte man den jungen Mann nicht als den »Blinden«, sondern als den Mann mit dem unsichtbaren Hund.
    Der Blinde führte den unsichtbaren Hund jeden Tag spazieren, befahl ihn zu sich, pfiff, schleuderte ein Stück Holz in die Luft, und der unsichtbare Hund apportierte, sprang – natürlich unsichtbar – in die Luft und raste davon, bis der junge Mann ihn zurückrief, ihn streichelte und tätschelte; »bravo, bravo«, sagte der Meister und ließ ihn wieder springen.
    Der unsichtbare Hund war fast ebenso beliebt im Städtchen wie der Blinde und seine beiden Kinder. Das Mädchen war fast fünf Jahre alt und hieß Donatella, und das dreijährige Brüderchen hieß Antonio.
    Und noch mehr als den Blinden mit dem unsichtbaren Hund und den beiden fröhlichen Kindern liebte man in dem kopfsteingepflasterten Städtchen die Frau und Mutter. Sie war schwarzhaarig und hieß Laura und war so überirdisch schön, so großzügig und hilfreich zu allen, die in Not gerieten, daß man sie bald nur noch »il angelo« nannte, den Engel.
    »Gott sollte diese Weltkugel unserer Laura anvertrauen«, pflegte der Pfarrer zuweilen zu seufzen.
    Niemand hat je erfahren, wie weit ihm der Herr bereits entgegengekommen war.
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