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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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verschwunden, der Himmel begann sich in lichteres Blau zu verwandeln, rasten die Digitalbuchstaben wie aus der Reisebüroreklame über den Himmel, ein Wolkenzelt über der kleinen Stadt:
    Mein Name ist Omai O'Hara. Repeat: Omai O'Hara. Das Zeitalter der Tätowierung ist angebrochen. Die Kunst ist für alle da. Das Zeitalter der Scham ist endgültig vorbei. Gott hat uns verziehen. Unsere Haut ist unsere Bekleidung. Sie gehört uns! Die Haut ist das Tiefste am Menschen. Halleluja! Halleluja! Halleluja! Amen.
     
    Aus der Menschenmenge, die Gesichter zum nächtlichen Himmel emporgereckt, stieg ein Stöhnen auf – Lust und Hingabe, zehntausendfach, dunkel und gewaltig wie das Rauschen des sterbenden Regenwalds am Amazonas.
    Wissenschaftler maßen das Stöhnen mit Computern; es dauerte, wie man später aus Fachzeitschriften erfuhr, genau einunddreißig Sekunden, was der Zeitdauer entspricht, in der Elefanten- und auch Walfischpaare kopulieren. In der einunddreißigsten Sekunde leuchtete die Mitteilung am Himmel auf:
    Ladies & Gentlemen: Sie werden nun für Sekunden das letzte Werk Omai O'Haras erblicken: Das Bild unserer Erde mit allen Erdteilen – projiziert auf den Mond…
    Das Originalwerk befindet sich im Besitz von Miss Laura Granati, der zur Zeit schönsten Frau Italiens, dem Land aller schönen Frauen. Viva Italia!
    Miss Laura Granati befindet sich heute persönlich in unserer Stadt. Eine Ehre für uns alle!
    Miss Laura Granati wird sich persönlich im Vatikan, Rom, für die Heiligsprechung von Omai O'Hara einsetzen.
    Und nun neigen Sie Ihr Haupt zurück, und betrachten Sie den Mond. Amen
     
    Dunkel herrschte.
    Man starrte zum Mond.
    Er war klar und hell wie ein polierter Messingteller. Langsam begann er zu gleißen; das Licht wurde unwirklich grell, wie das einer Halogenlampe, und schließlich weiß, mit glitzernden Funken.
    Zärtlich begannen sich Farben abzuzeichnen, Konturen von Kontinenten. Dann das immer stärker werdende Blau der Meere, die Bergzüge, die Wälder und Wüsten – ja das Gesicht der Erde wurde sichtbar, gespalten wie auf den Halbkugeln Lauras, deren milchig-rosa Haut durchschimmerte, die Weiblichkeit von Mond und Erde.
    Endlich gehörte der Mond wirklich der Menschheit, der Mond ist überall zu sehen. Die Kunst hatte ihn erobert. Nicht die Technologie.
    Die Menschheit, ein Bruchteil der Menschheit, die in Santa Fe lebte, verstummte.
    Die Hysterie war verklungen. Man fand sich in der Dunkelheit, umarmte seinen Nächsten, wie man jeden am Tag vor der Apokalypse umarmt, traurig und doch nicht unglücklich. Stumm. Und stumm wanderte man nach Hause. Die Autos fuhren ohne Licht. Im Schritttempo. Wie in einer Prozession. Nach dieser Nacht würde die Welt nie wieder dieselbe sein. Das Zeitalter der Hautkunst war endgültig angebrochen.
    Endlich konnte jedes menschliche Wesen sich selbst zum Kunstwerk machen.
    Und damit begann eine echte Friedenszeit für die Welt. Schwarze Haut, gelbe Haut, weiße Haut – als Kunstwerk wurde sie gleich.
    Im Jahre 2007 sprach Papst Johannes der Vierundzwanzigste Omai O'Hara und seine Kunst heilig.
     
    Wir, die wir die Geschichte kennen, dürfen uns zuweilen auch an Primo Antonio Robusti erinnern. Es gibt schlechtere, phantasielosere Menschen, die reich sind.
     
    Als Laura nach der Feier, umringt von Omai O'Haras Brüdern und deren Freunden, ins Hotel La Fonda zurückkehren wollte, standen in der nachfestlichen Dunkelheit Männer, die Zylinder trugen, feierliches Schwarz überall. Alle Lichter des Hotels waren gelöscht. Nur der Vollmond ließ sein Licht sehen, das für die Liebenden romantisch, für die Trauernden ohne Hoffnung ist.
    Etwas Hutähnliches wurde Laura über den Kopf gestülpt; sie vermochte das Ding noch einmal wegzureißen und sah noch, wie auch die Gesichter ihrer Freunde unter übergroßen Hüten – ja, es waren Zylinder – verschwanden.
    Zylinder sind die Särge der Gattung, die man als Hut bezeichnet: Feierlichkeit, Arroganz und Tod, das unverkennbare Symbol von Reichtum und Macht, auf Köpfen von Menschen, die unfähig sind, ihre eigene Lächerlichkeit zu erkennen.
    Doch da half nichts.
    Die Yakuza, so erfuhr man später, hatten während der Feierlichkeit das Hotel gekauft und sämtliche Räumlichkeiten mit Landsleuten gefüllt. Ihr Ziel war es, Lauras Haut zu besitzen.
    Als Laura eine Viertelstunde später aus einem leichten Chloroformrausch erwachte, lag sie nackt auf dem Bauch. Sie hob den Kopf, was keiner der umstehenden Männer
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