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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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Seine Flügel bestanden aus Stacheldraht. Seine Augen – ohne Pupillen – waren schwarz wie Asbest; seine stählernen Schuhe, Magnete des Bösen, rissen gnadenlos die schwarzen Seelen aus Menschenkörpern. An Sigron klebten sie wie Fliegen, zappelnd, verzweifelnd, und kein Beten half, denn diesem Engel war die Gewalt gegeben, den Gebeten der Irdischen alle Türen zum Himmel zu verschließen. Ließ er sich überzeugen, so änderte er seinen Namen, um die Kraft nicht zu verlieren.
    Der zweite Engel war Darmosiel, der Engel der Mitternacht. Sein Haupt speichert alles, was in der Tag- und Nachtscheide geschieht, meist Gräßliches. Seine linke Hand ist schwarz wie die Nacht, seine rechte hell wie ein Sommermorgen in den Bergen. Seine nächtliche Stimme dröhnt wie die Wolkenfeuerwehr der Apokalypse und seine Tagesstimme wie diejenige junger Mädchen, die zu genußfähigen Frauen geworden sind.
    Darmosiel war einzig aus Pflichtgefühl eingetroffen: Mitternacht eben, die schwere Stunde des Übergangs, und deshalb gähnte er auch hemmungslos, müde und betriebsblind. Die meisten Engelskollegen verachteten ihn; der Erzengel Michael pflegte ihn gar als irdischen Polizisten im Pensionsalter zu bezeichnen.
    Der dritte Engel, der sich an der 33. Straße East einfand, war Oertha, Engel des Nordens und Gletscher in der Himmelsordnung. Sein bloßer Hauch läßt Galaxien erfrieren, was verständlicherweise das Universum in Unordnung bringt, die mühsam behoben werden muß. Aber das All muß ohne Arbeit existieren, sonst ist es kein Universum. Oertha trägt immer eine Fackel mit sich, die ihn selbst erwärmt; die Fackel schützt aber auch den Planeten Erde vor dem Erfrieren.
    Die drei Engel sahen sich gegenseitig an, tauschten ein paar Blicke, keine tiefen Blicke. Das ist nicht erlaubt.
    Sie verstanden sich alsbald, und begleitet vom Nicken der Kollegen ließ Oertha seine Fackel lodern: Tauwetter. Was einen Neutronenstern in ungefähr achtzig Millionen Jahren gefrieren läßt, wurde in weniger als einer Sekunde wieder aufgehoben. New York existierte weiter, als sei nichts gewesen.
    Und alle drei Engel, Sigron, Darmosiel und Oertha weiteten zum Abschied die Flügel über dem Bett aus, in dem Laura und David schliefen.
    Als Laura erwachte, erblickte sie einen Zettel von David : Muß für drei Tage oder so Gallagher Hilfe leisten. Love. David.
    Sie packte befriedigt zwei ihrer schönsten Kleider in einen Koffer, fuhr zum LaGuardia-Flughafen und kaufte, mit dem Ziel Santa Fe, ein Ticket nach Albuquerque. Diese letzte Ehre war sie O'Hara schuldig. Sie war immerhin das größte Kunstwerk seines Lebens, der Tätowierkunst überhaupt. Und ein wenig tat sie es natürlich auch aus Eitelkeit. Noch einmal wollte sie sich feiern lassen; noch einmal…
    Aber schon als die Flugmaschine abhob, war sie traurig. Das Leben einer Bienenkönigin dauert vielleicht zwanzig Jahre, und so lange schien Laura die Reise zu werden. Jede Stunde dauerte ein paar Jahre. Mit Trauer kann man die Zeit beliebig verlängern; nur das Bewußtsein des Glücks läßt sich nicht verändern; es hat seine eigene, unbarmherzige Kürze.
    Eine Delegation von begeisterten Verehrern wartete am Flughafen von Albuquerque. Laura verteilte in einer dichten Menschenmenge Autogramme, länger als zwanzig Minuten, keine kurze Zeit, was ein Lobster bestätigen könnte: Lebendig ins kochende Wasser geworfen, braucht er zwanzig Minuten, um für den wartenden Gourmet genießbar zu sein.

DREIUNDZWANZIG
    Als Laura mit ihrem Gefolge – elf Limousinen – endlich vor dem Portal des Hotels La Fonda eintraf, umringt und behütet wie eine Prinzessin, konnte sie trotz ihres gesichtsverhüllenden Schleiers die Gesichter von Japanern erkennen. Sie wären auch sonst aufgefallen. Denn sie federten – der geringen Körpergröße wegen – da und dort aus der Menge hochgewachsener Amerikaner empor, um einen Blick zu erhaschen, und hielten dabei die Hornbrille fest.
    »Yakuza«, sagte der junge Mann, der sie am Ellbogen festhielt und führte. »Die Stadt wimmelt von Yakuzas. Sie wittern Geschäfte.«
    Laura stieß einen verhaltenen Schreckensschrei aus, den ihr Begleiter mit einer raschen Handbewegung über den Lippen abdichtete.
    »Wer sind Sie?« fragte Laura entsetzt, die Hand wegzerrend.
    »Ich bin Omai O'Haras Bruder. Fürchten Sie sich nicht, und bleiben Sie ruhig.«
    Laura verließen die Sinne.
    Als sie erwachte und ohne zu fragen an dem Glas Wasser nippte, das ihr gereicht wurde, saß sie in
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