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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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nach Mitternacht so kleine Spiele. Die meisten schauen zu.«
    »Schauen zu?« fragte Robusti. »Was denn?« Seine Stimme klang leise, aber nicht ungefährlich.
    »Haben Sie noch nie zugeschaut?«
    »Es gibt nichts, was ich nicht gesehen habe, nichts. Ich habe alles gesehen.«
    »Männer, die alles gesehen haben und überhaupt immer zuschauen, haben meist ein zu kleines –«
    Sie schwieg.
    »Ein was?« erkundigte sich Primo Antonio Robusti. »Ein was?« Seine Stimme klang rauh, als hätte er den Rauch einer billigen Zigarre in einem Bahnhofswartesaal des Pöbels einatmen müssen.
    »Ein zu kleines Glied«, antwortete sie und lachte silberhell. Er beherrschte sich, versuchte den Gesprächsablauf zu ordnen, lachte schließlich, fragte: »Also, welches Spielchen wird bei diesen Freunden gespielt?«
    »Man nennt es Borgia-Reiten, die Boutique-Besitzerin an der Via Manzoni hat es erfunden. Lucrezia Borgia hieß sie. Sie starb vor zwei Jahren.«
    »Lucrezia Borgia starb vor vierhundert Jahren«, bemerkte Robusti gereizt, »doch erzählen Sie weiter.«
    »Bitte, wenn Sie's besser wissen wollen! Ich bin eben noch nicht vierhundert Jahre alt, und Sie scheinen sich besser zu erinnern. Vergessen wir's.«
    »Aber ich bitte Sie!« entschuldigte sich Robusti. »Ich bin neugierig.«
    »Also«, begann Laura mit frischer Stimme und zog ihren knappen Wollrock straff, »ein paar Mädchen, nackt natürlich, kriechen auf dem Teppich herum und versuchen mit dem Mund herumliegende Kastanien zu erhaschen, dabei werden die Mädchen von kräftigen Burschen von hinten geritten. Die, die am meisten Kastanien –«
    »Geschälte?« erkundigte sich Robusti.
    »Ja, geschälte Kastanien zu erhaschen, zu kauen und zu schlucken vermag, erhält den ersten Preis. Bargeld.«
    »Wieviel?« erkundigte sich Robusti. Laura gähnte. »Sie sind schön wütend auf mich«, sagte sie nach einer Weile. »Sie würden mich nun liebend gerne vergewaltigen und dann erwürgen. Aber das werden Sie nicht tun. Das hat man nämlich genau auf dieser Strecke mit meiner Schwester gemacht und sie dann aus dem fahrenden Auto geworfen. Meine Eltern klagten gegen Unbekannt und erhielten dann anonym ein Stück Geld zugeschickt, mit dem sie sich ein Häuschen kaufen konnten.«
    »Eine seltsame Geschichte«, bemerkte Robusti nachdenklich, »ich glaube damals in der Zeitung darüber gelesen zu haben.«
    »Wenn's nur das war«, sagte Laura patzig und sah aus dem Fenster.
    Die Limousine fuhr durch ein Tor aus Marmor. Kies knirschte unter den Reifen, Baumäste streichelten das Limousinendach, und in naher Ferne oder ferner Nähe – es war wie eine optische Täuschung – erblickte man einen riesigen Palazzo, zu dem ein breiter Weg führte, überdacht von Kletterrosen. Oleanderblüten in allen Farben schmückten den Saum des Weges, Hibiskus leuchtete im Mondlicht.

FÜNF
    Laura sah dies alles nicht. Sie überhörte auch Robustis Erklärung, der Palazzo sei im klassizistischen Stil eines Architekten namens Palladio gebaut worden, der im 16. Jahrhundert gelebt und die Architektur in ganz Westeuropa beeinflußt habe.
    In dem Augenblick, als die Limousine den Toreingang durchquerte, erloschen alle Lichter außer jenen in den drei Fenstern des zweiten Stockwerks. Die Dienerschaft war wie eine Mäuseschar verschwunden.
    Es war dunkel wie in einem ausgetrockneten Tintenfaß.
    Auf einer Konsole standen brennende Kerzen, die ihr flackerndes Licht auf die Goldrahmen der Bilder warfen. Es handelte sich allerdings, wie wir wissen, um Reproduktionen.
    Signore Robusti umfaßte das Handgelenk des Mädchens und führte es die erste, dann die zweite schneckenartige Treppe hinauf, vorbei an Kerzenlicht in den Nischen, das seine zitternden Schatten auf Ornamente warf.
    Laura blieb überwältigt stehen, atmete tief und umarmte Robusti schließlich wie einen edlen Beschützer. Er hob sie auf seine Arme und trug sie zu einem Raum, dessen Tür fußbreit und gleichsam erwartungsvoll geöffnet war. Der Raum war kleiner, als man erwartet hätte. Ein Schlafzimmer ganz aus Seide, auch die Tapeten aus rosa Seide, nur für eine Frau geschaffen. Das breite französische Bett war von einem hohen Baldachin mit weinroter Bordüre überdacht, und die Leintücher atmeten Wärme aus. Robusti dachte an alles, wenn es um Liebe ging.
    Und auf diese seidenüberzogene Matratze setzte Robusti das Mädchenkind nieder und küßte ihre Augen. Sie hielt den Kopf gesenkt, verteilte ihr Haar in wilden Strähnen über das Gesicht und
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