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Geographie der Lust

Geographie der Lust

Titel: Geographie der Lust
Autoren: Jürg Federspiel
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Staub von der Schatulle, rieb sie mit seinem Ärmel blank. Bis zu den Rändern war sie gefüllt mit Perlen, Amuletten, Ringen, Colliers mit Edelsteinen und smaragdbestückten Armspangen.
     
    Er hätte ein ganzes Land der Dritten Welt damit kaufen können, dachte Robusti. Natürlich ohne Berücksichtigung der möglicherweise hungernden Bevölkerung.
    Einfach ein Land, fünfmal so groß wie Italien.

ACHT
    Ihr Körper war ausdrucksvoller, als Robusti sich erinnern konnte, das Hinterteil kraftvoller, runder, atemberaubender – ja es schien, als hätte es ein Engel namens Michelangelo Buonarotti von neuem modelliert. Und dazu die Blumen, deren Knospen aufgebrochen waren, sich entfalteten und leuchteten.
    Robusti war zurückgekehrt.
    »Alles, was du nur wünschen kannst«, sagte er feierlich.
    »Alles, was ich mir wünsche, ist ein Farbfernseher«, antwortete Laura, »und wo bleibt die Überraschung?«
    Robusti legte die Schatulle vor ihr Gesicht, öffnete sie langsam, ließ sie einen Blick auf den Schatz werfen und senkte den Deckel wieder.
    Sie rührte sich nicht, löste ein Stängelchen Kaugummi aus dem Stanniolpapier, steckte es in den Mund und begann zu kauen.
    »Eine Dame tut so etwas nicht«, sagte Robusti. »Schau.« Er tastete in der Schatulle nach einzelnen Perlen und ließ sie fallen.
    Laura spuckte das Kaugummi über die Bettkante, griff in die Schatulle, spickte zwei oder drei Perlen mit akrobatischer Sicherheit in den geöffneten Mund und ließ sie an ihren Zähnen klingen. Ein köstliches Geräusch, dachte er, Perlen unter Perlen. Und hatten die Perlen nicht in einem rosa Muschelfleisch geruht, waren sie nicht wie in einem feuchten Mädchenmund entstanden?
    »Echt?« fragte Laura, ließ die Perlen aus dem Mund in die Hand fallen, betrachtete sie und zog die Unterlippe verächtlich herunter.
    »Was gibt's sonst noch in der Blechbüchse?« fragte sie frech und schob wieder ein Blättchen Kaugummi in den Mund.
    »Ich dulde manches«, herrschte Robusti sie an, packte ihr zierliches Gesicht mit einer einzigen Hand und drückte es wie eine Maske zusammen, »aber nicht, daß man meine Mutter beleidigt.«
    Sie versuchte zu schreien, doch sein Handfleisch ließ sie beinahe ersticken, und kurz bevor sie das Bewußtsein verlor, entließ er sie aus der Umklammerung. Sie schluchzte eine Weile.
    »Ich verzeihe dir«, sagte er schließlich. »Und nun will ich dir von deinem Glück erzählen. Betrachte die Weltkugel dort und höre auf jedes Wort, ja?«
    Laura hörte auf zu schluchzen, abrupt wie ein Kind, und versuchte ein glückliches Lächeln zu zeigen.
    Sie hatte vorübergehend ihr Herz am nördlichsten Punkt des Nordpols begraben. Nur eine Äquatorwendung von fünftausend Jahren hätte es zu schmelzen vermocht. Eine Ewigkeit. Aber sie hielt nichts von Ewigkeit. Eine Frau wie Laura gibt keine Haarspange für die Ewigkeit. Eine Haarlocke der Kaiserin Josephine interessierte sie mehr als die militärischen Irrtümer während der Schlacht bei Waterloo.
    Primo Robusti aber war ein Mann: er glaubte an die Geschichte der Welt und deren Unvergänglichkeit. In Ewigkeit, Amen. Da die Zukunft logischerweise in der Ewigkeit ihren festen Platz hat, sollte es auch in Zukunft Männer von Robustis Format geben. Sie sollten nach Möglichkeit auch seinen Namen tragen.
    Und nun konnte er sein Lebenswerk, an das er kaum mehr geglaubt hatte, endlich beginnen und vollenden.
    Das Rohmaterial war vorhanden, das bezauberndste und zarteste Rohmaterial, das einem Mann zur Verfügung stand: das lebendige Fleisch einer Frau. Lauras Körper sollte die letzte Vollendung erfahren dank seiner ureigenen Idee.
    Und für diese Idee war er sogar imstande, den Schmuck seiner toten Mutter zu opfern.

NEUN
    Laura möge sich die Weltkugel anschauen, lange anschauen, verlangte er, so wie sie es eben getan habe, nur länger, geduldiger. Sie möge die Augenlider schließen, das Bild des erleuchteten und sich drehenden Globus in ihr Inneres einschließen und es dort bewahren. Wenigstens für eine Minute.
    Robusti stierte auf seine Armbanduhr und verfolgte den Gang des Sekundenzeigers wie die Ingenieure beim Countdown von Apollo Elf. Die Sekunden schlichen.
    Was geschieht in einer Sekunde? Die erste Schockwelle eines Erdbebens benötigt eine Sekunde, um fünf Meilen zurückzulegen, während ein Telephonanruf in der nämlichen Zeit hunderttausend Meilen entfernt den Apparat mit der gewählten Nummer erklingen läßt. Weiter und schneller als ein Meteor, der mit
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