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Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder

Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder

Titel: Genial gescheitert - Schicksale großer Entdecker und Erfinder
Autoren: Thomas Buehrke
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Frankfurt am Main gelegene Friedrichsdorf ein beschaulicher Ort. 700 Einwohner, vier Schulen, eine Apotheke, eine Poststation. Die Hutmacherei und Lederverarbeitung sowie eine Zwiebackbäckerei bilden das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt. In der Hauptstraße gleich neben dem Bürgermeister wohnt Philipp Reis, Lehrer an der nahe gelegenen weiterführenden Knabenschule Institut Garnier.
    Alles geht seinen gewohnten Gang in Friedrichsdorf, nichts deutet darauf hin, dass Reis gerade dabei ist, ein Gerät zu erfinden, das Jahrzehnte später unser Leben revolutionieren wird: das Telefon. Nur wer genau hinschaut, bemerkt im Hof des Hauses zwei Drähte, die von einer kleinen Scheune ausgehend über einen Zwetschgenbaum gespannt in das Fenster des Wohnhauses führen. Dort befindet sich der erfindungsreiche Lehrer, ein untersetzter Mann von 27 Jahren mit auffällig großem Kopf und breiter Stirn. Schnurrbart, graublaue Augen, das Haar aschblond und streng gescheitelt. Neben ihm stehen Musiklehrer Heinrich Peter, Hofrat Müller, Apotheker Müller sowie der ehemalige Direktor des Instituts Garnier, Schenk. Sie alle versammeln sich um einen Tisch, auf dem eine Geige steht.
    Dass es hier nicht um eine Hausmusikstunde geht, ist leicht ersichtlich: In einem der beiden geschwungenen F-Löcher der Violine steckt eine Stricknadel, die mit einem grün isolierten Kupferdraht umwickelt ist. Von einem Ende dieser Spule führt ein Draht zu einem Pol einer Säurebatterie, und von deren anderem Pol geht ein Draht durch das Fenster nach draußen indie Scheune. Vom anderen Ende der Spule führt eine weitere elektrische Leitung über den Zwetschgenbaum hinweg ebenfalls in die Scheune. Dort enden die beiden Drähte in einem aus Holz geschnitzten Ohr – einer vorne, der andere hinten. Das Ohr steht auf einem Tisch, vor dem sich Reis’ Schwager Philipp Schmidt platziert hat. Er wartet auf einen Ruf aus dem Hause, dass der Versuch beginnen könne.
    Dann kommt der große Moment. Schmidt spricht in das Ohr mehrere Sätze. Nichts historisch Bedeutendes, sondern eher Profanes aus dem ›Turnbuch für die Schulen‹ des Pädagogen Adolf Spieß. Auf wundersame Weise werden in dem hölzernen Ohr die Worte in elektrische Signale umgewandelt. Diese gelangen durch die Drähte hindurch in das Wohnhaus, wo die Spule auf dem Resonanzkörper der Geige geheimnisvoll schnarrt.
    Reis lauscht den Worten und teilt sie dann den Umstehenden mit. Musiklehrer Peter ist skeptisch und sagt zu Reis, er könne ja offenbar das gesamte Turnbuch auswendig. Er, Peter, wolle es selbst einmal versuchen. Daraufhin verlässt er das Wohnhaus und geht in die Scheune, um nun selbst einige Sätze in das hölzerne Ohr zu sprechen. »Die Sonne ist von Kupfer« artikuliert er deutlich, was Reis im Wohnhaus als »Die Sonne ist von Zucker« versteht. Und von dem gern zitierten Satz »Das Pferd frisst keinen Gurkensalat« versteht Reis nur den ersten Teil. 1
    Auch wenn es bei dem einen oder anderen Wort Aussetzer gibt, hat Reis allen Anwesenden bewiesen, dass es möglich ist, Sätze und Töne auf elektrischem Weg zu übertragen. Eine unglaubliche Entdeckung. Das gilt für die weisen Worte von Turnvater Spieß und Nonsens-Sätze genauso wie für Musik. Kurz darauf spannt Reis eine Leitung sogar bis ins wenige hundert Meter entfernte Institut Garnier und kontrolliert damit seine Schüler.
    An eine kommerzielle Vermarktung des Gerätes, dessen Bezeichnung »Telephon« Reis selbst einführt, ist noch nicht zudenken. Doch ist es Reis’ erklärtes Ziel, es so weit zu verbessern, dass es mit einer kleinen Anleitung von jedem bedient werden kann. Zwar verschickt er später zahlreiche Exemplare in alle Welt. Sie gelangen in physikalische Laboratorien von München, Wien, London, Dublin und sogar Tiflis im Kaukasus. Aber dort experimentieren die Direktoren nur mit den wundersamen Geräten, bevor sie in den wissenschaftlichen Apparatesammlungen landen. An einen praktischen Nutzen denkt auch dort niemand.
    In Deutschland stößt das »Telephon« im wahrsten Sinne des Wortes auf taube Ohren. Als nicht einmal der Physikalische Verein zu Frankfurt Reis’ Erfindung würdigt, tritt dieser enttäuscht aus. Es bleibt ihm auch nicht mehr viel Zeit, seine Erfindung zur Reife zu bringen, denn rund zehn Jahre nach seinem legendären Versuch erkrankt er an Tuberkulose und stirbt nach langem Siechtum im Alter von vierzig Jahren.
    Noch auf dem Krankenbett sagt er seinem ehemaligen Lehrer Louis Frédéric Garnier:
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