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Geliebter Normanne

Geliebter Normanne

Titel: Geliebter Normanne
Autoren: Rebecca Michéle
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Gruppe, die zahlenmäßig sowieso nichts gegen die normannische Streitmacht hätte ausrichten können, musste bald aufgeben, und ihre Anführer wurden hingerichtet. Die Übrigen waren seitdem ergebene Untertanen des neuen Herrschers.
    »Für ein Mädchen bist du viel zu gescheit«, murmelte Waline.
    Hayla lachte. »Weil ich lesen und schreiben kann?«
    »Nicht nur deswegen, sondern weil du einen wacheren und klareren Verstand als so mancher Mann hast. Du begreifst Zusammenhänge schneller als andere, denen man sie mehrmals erklären muss.«
    Hayla schenkte der Magd einen liebevollen Blick und sagte leise: »Du sprichst aber auch nicht so, wie man es von einer Magd erwartet. Waline, du hast nie etwas über deine Vergangenheit verlauten lassen. Ich vermute, dass du nicht immer eine einfache Magd warst, sondern auch mal bessere Zeiten erlebt hast.«
    Für einen kurzen Moment flog ein Schatten über Walines Gesicht, dann sagte sie betont forsch: »Genug jetzt, Mädchen, und geh an die Arbeit. Es gibt viel zu tun, bevor der Winter kommt.«
    Waline blickte Hayla lange nach, als diese leichtfüßig die Halle verließ, um an ihre Arbeit zu gehen. Sie war ein schönes Mädchen – mittelgroß, mit einem wohlproportionierten Körper. Das Schönste an Hayla aber war ihr schwarzes Haar, das sich, wenn sie es offen trug, in üppigen Wellen bis auf ihre Hüften ergoss. In Kontrast zu der dunklen Lockenpracht fielen Haylas heller Teint und ihre veilchenblauen Augen, in denen stets ein wissender Ausdruck lag, jedem sofort ins Auge, der sie betrachtete. Waline seufzte und griff nach einem Kessel, um ihn über das Feuer zu hängen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Arbeit. Es stimmte, was sie zu dem Mädchen über ihren wachen Verstand gesagt hatte. Hayla dachte zu viel nach, stellte zu viele Fragen und zog Schlüsse aus Dingen, die sie eines Tages vielleicht auf die richtige Spur brachten. Das durfte niemals geschehen! Nie durfte Hayla die Wahrheit erfahren! Waline hatte Sir Leofric auf dessen Totenbett versprochen, sich bis zu ihrem letzten Atemzug um Hayla zu kümmern, das Mädchen zu beschützen und niemals auch nur eine Silbe über das Geheimnis, das Leofric ihr anvertraut hatte, verlauten zu lassen. Sollte sie das tun, würde ihr, Waline, die Zunge im Mund zu einem schwarzen Klumpen verfaulen. Haylas Leben wäre nichts mehr wert, wenn die Normannen Kenntnis von ihrer Existenz erhielten. Zweifelsohne würde man sie töten. Waline seufzte laut und wandte sich ihrer Arbeit zu. Es war an der Zeit zu kochen, und so warf sie kleingeschnittenes Wurzelgemüse in den Kessel mit dem kochenden Wasser. Sie verstand, dass das Mädchen in der Abgeschiedenheit Cornwalls unglücklich war und sich nach Unterhaltung sehnte, aber hier war sie wenigstens sicher. Jedenfalls im Moment noch, denn Waline hatte keinen Zweifel daran, dass die Normannen früher oder später auch nach Cornwall vordringen und hier ebenso grausam und brutal wüten würden wie im restlichen Land. Und wie sollte dann sie, eine alte und von der Arbeit gebückte Magd, das Mädchen beschützen?
     
    Die Wolken rissen hier und da auf, aber die Sonne wärmte um diese Jahreszeit nicht mehr. Es blies ein scharfer, kalter Wind, und Hayla zog den groben Umhang enger um ihren Körper. Mit schnellen Schritten ging sie über das abgeerntete Feld in Richtung Osten auf den nahen Wald zu, um Holz zu sammeln. Als sie die ersten Bäume erreicht hatte, ließ ein Geräusch, das wie das Niesen eines Menschen klang, sie erstarren. Von Walines eindringlicher Warnung aufgeschreckt, blickte sie sich in der Erwartung, gleich von einer Horde Normannen überfallen zu werden, hastig um. Schimmerte da hinten in dem Gebüsch nicht ein Stück Stoff durch die Äste? Hayla nahm ihren ganzen Mut zusammen und rief: »Wer ist da? Zeigt Euch!«
    Als Antwort hörte sie ein leises Weinen, dann eine flüsternde und jung klingende Stimme.
    »Sei still, bitte sei still!«
    Entschlossen ging Hayla auf das Gebüsch zu. Sie wähnte sich nicht mehr in Gefahr, sondern glaubte eher, dass jemand Hilfe brauchte. Als sie die Äste auseinanderschob, blickte sie in das Gesicht eines Jungen, kaum älter als dreizehn oder vierzehn Jahre. Neben ihm kauerte ein kleines, blondes Mädchen, das am ganzen Körper zitterte und dem die Tränen unaufhaltsam über die Wangen liefen.
    »Eric … Hilda …«, rief Hayla erschrocken. Sie erkannte die Kinder sofort. Sie gehörten zu einem Bauernhof ungefähr vier Meilen in östlicher
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