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Gehirnfluesterer

Gehirnfluesterer

Titel: Gehirnfluesterer
Autoren: Kevin Dutton
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Schließlich zog sogar jemand eine Schusswaffe.
    Mit Mancini habe es etwas Besonderes auf sich gehabt. Es war die Art, wie er mit den Leuten sprach, erzählte sie. Alle anderen
     hätten sich hinter Panzerglas verschanzt, Mancini sprach ungeschützt mit seiner Klientel, Auge in Auge, egal um was es ging.
     Stets hatte er einen Kaffee bereit, sein Tisch stand in der Mitte, dort, wo alle ihn sehen konnten. Sie fand das extrem leichtsinnig,
     geradezu wahnsinnig. Ich auch. Aber trotz aller Probleme – und es habe eine Menge davon gegeben – sei Mancini in den zweieinhalb
     Jahren, in denen er dort arbeitete, nie tätlich angegriffen worden. Kein einziges Mal. Und noch etwas sei merkwürdig gewesen.
     Sobald die Leute mit ihm in Kontakt kamen, schienen sie geradezu entspannt. Als ob ein Schalter umgelegt worden wäre. Keiner
     wusste, wie Mancini das schaffte, aber alle Kollegen hätten es beobachtet. Vielleicht, sagten sie, war er einfach verrückt,
     und die anderen Verrückten reagierten darauf.
    Später habe ich Mancini kennengelernt und war überrascht. Irgendwie hatte ich eine Art Robert De Niro oder Al Pacino erwartet.
     Stattdessen sah ich einen schicken, großstädtischen Jesus, der aussah, als arbeite er in einer Saftbar. »Marco«, sagte ich,
     »wie ich höre, hattest du in all der Zeit beim Arbeitsamt niemals Probleme. Was ist dein Geheimnis?«
    Wie sich herausstellte, war die Lösung des Rätsels ziemlich einfach. Er habe einfach erst mal gar nichts gemacht. Er habe
     aber dafür gesorgt, dass der Stuhl seines Gesprächspartners etwas höher war als sein eigener. Die Menschen, mit denen er zu
     tun hatte, konnten also aus erhöhter Position mit ihm sprechen. Er hörte von unten zu. Und noch etwas: Sobald sie sich ein
     bisschen beruhigt hatten und der schlimmste Sturm vorüber war, habe er den Leuten direkt in die Augen gesehen. Man müsse erregten,
     durchgedrehten Leuten in die Augen schauen. Und lächeln. Und man müsse sie berühren, wenigstens einmal, am Arm.
    Er erzählte mir ein Erlebnis aus seiner Kindheit: »Damals war ich zehn. Ein Mitschüler hatte mich beim Lehrer verpetzt und
     ich bin fast ausgeflippt, wirklich durchgedreht. Ich lief auf den Schulhof, um den Kerl zu suchen und die Scheiße aus ihm
     herauszuprügeln. Doch als ich ihn dann fand, habe ich bloß herumgebrüllt. Und dann war ich plötzlich still. Das kam von der
     Art, in der er da saß. Er saß tief, auf einem Mäuerchen, und tat nichts. Wie soll man jemanden verprügeln, der nichts tut?
     Das ist ja so, als ob man jemanden kaltblütig niederschießt. Wie soll er sich denn verteidigen? Außerdem hatte er die ganze
     Zeit, während ich herumbrüllte, den Kopf gesenkt. Dann sah er zu mir hoch, rührte sich aber immer noch nicht. Als wollte er
     sagen: »Gut, hier bin ich. Schlag mich, wenn du willst.« Aber ich konnte nicht. Es ging einfach nicht. Also habe ich mich
     umgedreht und bin weggegangen.«
    Ein Verhalten wie das von Mancini sollte man nicht leichtfertig nachahmen, wenn man kein Gehirnflüsterer ist. Man muss nämlich
     nicht nur das richtige Verhalten an den Tag legen, sondern auch die richtigen Qualitäten vorweisen, vor allem Selbstvertrauen
     und Einfühlungsvermögen. Davon war schon die Rede. Aber das Verhalten ist sehr wichtig. Da wird es richtig interessant. Bei
     genauer Betrachtung hatte Marcos Verhalten große Ähnlichkeit mit Unterwerfungsgesten, den ritualisierten, symbolischen Verhaltensmustern,
     die im Tierreich zur Konfliktlösung dienen. Es ist eine Art, sich herauszureden, wenn man in Schwierigkeiten ist und nicht
     einfach die Escape-Taste drücken kann.
    Nehmen wir zum Beispiel den Stuhl. Der empörte Besucher, der aber eigentlich etwas von der Behörde will, sitzt höher als derjenige,
     der ihm helfen soll. Wenn Mimikry direkte Empathie bedeutet, liegt die ursprüngliche Macht eines Schlüsselreizes zur Beschwichtigung
     in der Kunst der Überraschung. In der Inkongruenz. Oder, wie Darwin es in seinem Buch ›Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei
     Menschen und Tieren‹ formuliert hat, im »Prinzip des Gegensatzes«. Ein Pavian, egal ob Männchen oder Weibchen, zeigt dem Angreifer
     seinen Hintern und begibt sich in eine scheinbare Begattungsposition. Wenn er Pech hat,wird das Angebot angenommen. In der Regel aber wird diese Geste, der Gegensatz von Aggression, als Unterwerfungsgeste akzeptiert
     und das Gnadengesuch des unterlegenen Parts wird angenommen.
    Nehmen wir die passive Haltung.
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