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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie
Autoren: John le Carré
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die ihm zu demonstrieren ich die Kühnheit besaß –, fließend aus einer Sprache in die andere zu gleiten. Im Missionshaus hatte ich für diese Zurschaustellung meiner Talente teuer bezahlen müssen, unter Pater Michaels verzückten Blicken jedoch erlangten sie quasi-himmlischen Status:
    »Welch größeren Segen gibt es, mein lieber Salvo«, rief er, und eine drahtige Faust schoß aus seiner Kutte hervor und boxte in die Luft, während sich die andere Hand schuldbewußt unter meinen Kleidern zu schaffen machte, »als die Brücke zu sein, das unentbehrliche Bindeglied zwischen den ringend sich bemühenden Gesch öpfen Gottes? Das Seine Kinder zusammenführt in Harmonie und gegenseitigem Verstehen?«
    Was Michael nicht bereits über meine Lebensgeschichte wußte, war im Lauf unserer zweisamen Gänge bald erzählt. Ich berichtete ihm von den magischen Abenden am Kamin des Dienstbotenquartiers. Ich schilderte ihm, wie mein Vater und ich in seinen letzten Jahren zu entlegenen Dörfern gereist waren, wo ich, solange er mit den Ältesten palaverte, den Kindern unten am Fluß die Wörter und Wendungen abluchste, die mein ein und alles waren. Andere mochten ihr Glück in wilden Spielen, in Fauna, Flora oder Stammestänzen suchen – Salvo, das Kind, das es nicht gab, fand die Erfüllung in den melodiösen Vertraulichkeiten der afrikanischen Stimme mit ihren Myriaden von Schattierungen und Variationen.
    Und w ährend ich der Erinnerung an solche und ähnliche Abenteuer nachhing, wurde Pater Michael seine große Erleuchtung zuteil.
    »Wie es dem Herrn gefallen hat, in dir zu säen, Salvo, also laß uns jetzt zusammen ernten!« rief er.
    So ernteten wir denn. Mit einer Resolutheit, die ihn weniger M önch denn Marschall erscheinen ließ, wälzte der noble Michael Vorlesungsverzeichnisse, verglich Studiengebühren, schleppte mich zu Auswahlgesprächen, nahm meine prospektiven Lehrer, Damen wie Herren, ins Kreuzverhör und blickte mir über die Schulter, während ich mich einschrieb. Sein Ehrgeiz, entfacht von Anbetung, war so unerbittlich wie sein Glaube: Ich sollte eine solide Grundlage in jeder einzelnen meiner Sprachen erhalten und auch diejenigen wiederentdecken, die im Lauf meiner bewegten Kindheit auf der Strecke geblieben waren. Und wer w ürde aufkommen für all dies? Ein Engel, der uns erschien in Gestalt von Michaels reicher Schwester Imelda, deren säulengeschmücktes Haus aus honiggoldenem Sandstein, in die Senken Somersets geschmiegt, zu meiner Herzensheimat außerhalb Herz Jesu wurde. Auf Willowbrook, wo ausgemusterte Poloponys ihr Gnadenbrot bekamen und jeder Hund seinen eigenen Ohrensessel hatte, wohnten drei muntere Schwestern, deren älteste Imelda war. Wir hatten unsere eigene Kapelle mit Angelusglocke, einen Grenzgraben, ein Eishaus, einen Croquetrasen und Trauerlinden, die, wenn es stürmte, umstürzten. Wir hatten das Onkel-Henry-Zimmer, weil Tante Imelda die Witwe eines Kriegshelden namens Henry war, der England im Alleingang vor dem Feind errettet hatte, und hier war er, von seinem ersten Teddybären auf dem Kopfkissen bis hin zu seinem letzten Brief von der Front, der auf einem goldbeschlagenen Lesepult lag. Aber kein Photo, danke vielmals. Tante Imelda, deren Schale so rauh war wie ihr Kern weich, erinnerte sich auch ohne allerbestens an Henry und behielt ihn somit für sich.
    * * *
    Doch Pater Michael kannte auch meine Schw ächen. Er wußte, daß Wunderkinder – denn als ein solches sah er mich – im gleichen Maße gezügelt wie gefördert werden mußten. Er wußte, daß ich zwar strebsam war, aber auch unbesonnen: viel zu leicht eingenommen von jedem, der nett zu mir war, viel zu sehr in Angst davor, abgelehnt, ignoriert oder gar ausgelacht zu werden, viel zu schnell bereit, jede sich bietende Chance zu ergreifen, denn eine zweite w ürde es womöglich nie geben. Er hielt nicht weniger auf mein feines Gehör und scharfes Gedächtnis als ich, aber er bestand darauf, daß ich mich in beidem so gewissenhaft übte wie ein Musiker an seinem Instrument oder ein Priester in seinem Glauben. Er wußte, daß mir jede Sprache kostbar war, nicht nur die Schwergewichte, sondern auch die kleinen, todgeweihten, die ohne Schriftform auskommen mußten; daß der Sohn des Missionars nicht anders konnte, als hinter diesen verirrten Schafen herzulaufen und sie zur Herde zurückzubringen; daß ich darin Legenden und Fabeln hörte, Geschichte, Poesie und die Stimme meiner nie gekannten Mutter, die mir von Geistern
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