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Gefaelschtes Gedaechtnis

Titel: Gefaelschtes Gedaechtnis
Autoren: John F. Case
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MTV. »The Real World.«
    Etwa zehn Minuten später trafen ein Rettungswagen und drei Polizeiautos mit gellenden Sirenen ein. Kurz danach kam ein Kamerateam vom Fernsehen und machte Aufnahmen von dem blutbefleckten Rollstuhl, dem alten Mann, der auf einer Trage weggeschafft wurde, und dem jamaikanischen Pfleger in einem Liegestuhl, das Gesicht in den Händen vergraben. In der Nähe standen einige Gäste mit exotischen Drinks, tuschelten und blickten ernst.
    Über eine Stunde verging, bevor ein Polizist an Nicos Tür klopfte, um zu fragen, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hatte. Sie verneinte und erkundigte sich dann, was denn da unten eigentlich los sei.
    »Unten am Strand ist auf einen Mann geschossen worden«, erwiderte der Polizist.
    »Das gibt's doch nicht.«
    »Doch.«
    »Aber ich habe nichts gehört - ich meine, nicht, bis der Rettungswagen gekommen ist.«
    »Niemand hat was gehört«, sagte der Polizist. »Jedenfalls, soweit wir bisher wissen.«
    »Er ist doch hoffentlich nicht schwer verletzt? Der Mann, auf den geschossen wurde?«
    Der Cop schüttelte bedauernd den Kopf.
    »Sie meinen, er ist tot?«, fragte sie.
    »Leider ja«, sagte der Polizist. »Ermordet. Sie könnten sogar sagen abgeknallt.«
    »Hier? Das ist ja schrecklich!«
    Der Polizist schnaubte, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. »Schrecklich ist glatt untertrieben.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Der Polizist blickte verlegen. »Ich dürfte Ihnen das gar nicht sagen, aber ... es war irgendwie unsinnig.«
    »Was meinen Sie?«
    »Den Mann zu erschießen.«
    »Wieso?«
    »Er heißt Crane. Zweiundachtzig Jahre alt. Krebskrank. Jeder kennt ihn. Er ist richtig prominent.«
    »Und?«
    »Sein Pfleger sagt, er hätte nur noch sechs Monate zu leben gehabt. Vielleicht ein Jahr, mit viel Glück. Ich meine —« Der Cop schüttelte den Kopf und lachte traurig. »Was macht das für einen Sinn?«

2

    Washington, D. C.
                
                A propos »Höhenflüge« — sie platzte fast vor Energie! Und nicht bloß heute. Gestern war es auch so gewesen, und vorgestern. Eigentlich seit sie zurück war aus — wo auch immer.
    Florida! Sie war in Florida gewesen.
    Heute Morgen war sie um fünf Uhr aufgestanden (an Schlaf war nicht zu denken, wenn sie so war), hatte die Küchenschränke aufgeräumt und den Kühlschrank abgetaut. Dann hatte sie den Herd sauber gemacht und die Böden gewischt und gebohnert. Im Badezimmer hatte sie den Inhalt des Medizinschränkchens mit einem Schwung in eine Einkaufstüte gefegt. Danach hatte sie den Spiegel und die Regale geputzt und gedacht, ich brauche das alles nicht mehr. Nicht das Sinex, nicht das Lithium, nicht das Aspirin. Das war die neue Nico, so sauber und klar und frisch wie ein Evian-Wasserfall.
    Heute war ihr Tag, der Tag, an dem sie zu Duran ging.
    Sein Büro war in Cleveland Park. Um von Georgetown dorthin zu gelangen, musste sie die M Street bis zur Key Bridge hinuntergehen, den Potomac nach Rosslyn überqueren und die U-Bahn nehmen. Es war eine ganz schöne Strecke, aber ihre Besuche bei Duran waren ungefähr so frei gewählt wie atmen. Nicht wie das Lithium. Es war wirklich wichtig, so wichtig, dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, einmal nicht hinzugehen. Duran war ihr Anker, Psychiater und Exorzist, alles in einem. Er brachte sie dazu, sich den Dämonen zu stellen, die sie verfolgten, und mit seiner Hilfe würde sie sie vertreiben. Er würde sie gesund machen. Das hatte er versprochen.
    Als sie in die U-Bahn-Station hinabstieg, fiel ihr der Geruch auf, der die Treppe heraufwehte, eine Mischung aus Höhle und Staubsauger. Das war der Untergrundgeruch, den die Dunkelheit verströmte, der Duft verborgener Orte. U-Bahnen, Tunnel, Keller. Der Keller in South Carolina. Shenandoah Caverns in Virginia, wo die ganze Familie einmal Ferien gemacht hatte und wo Adrienne Ärger bekommen hatte, weil sie einen Stalagmiten angefasst hatte. Sie erinnerte sich noch immer an die gemeine Stimme des Aufsehers.
    Dieser Untergrundgeruch war der olfaktorische Hintergrund der U-Bahn, wie der Bass in der Musik oder die Kulisse bei einer Sitcom. Aber es gab auch hellere Aromen. Kaffee, Schweiß, Tabak; Staub. Ein Hauch Uringestank, eine Prise Parfüm - oder war das Haarspray?
    Und die Fahrt! Die Fahrt war eine Massage, die sie beinahe träumerisch werden ließ. Sie mochte den Klang, das Zischen der Luft, das rhythmische Schwanken der Wagen, die durch den Tunnel rasten. Sie mochte das Gefühl,
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