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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer
Autoren: Anne Perry
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in der letzten Nacht zurückzuführen war, sondern auf irgendeinen früheren Zusammenstoß, an den Monk sich allerdings nicht erinnern konnte.
    Er forschte vergeblich im Gesicht seines Gegenübers, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen und bekam dadurch wieder nicht mit, was der Mann gesagt hatte.
    »Entschuldigung, Miller. Wie war das gerade?«
    Miller schaute verlegen drein. Er war offenbar nicht sicher, ob es sich um das Eingeständnis schlichter Unaufmerksamkeit handelte oder um die versteckte Kritik, seine Worte seien durch und durch unglaubwürdig.
    »Ich sagte, ich bin die Queen Anne Street letzte Nacht auf der Westseite abgegangen, dann die Wimpole runter und die Harley wieder rauf. Alle zwanzig Minuten, ohne irgendwas auszulassen, weil nämlich absolut nix los war und ich nich einmal stehenbleiben mußte.«
    Monk runzelte die Stirn. »Sie haben niemanden gesehen? Keine Menschenseele?«
    »O doch, 'ne Menge Leute - aber niemand, der da nich hingehört«, gab Miller zurück. »An der Ecke zur Chandos Street, da, wo sie in den Cavendish Square mündet, war 'ne Riesenparty im Gang. Überall lungerten Kutscher und Lakaien und so rum, bis nach drei Uhr morgens, aber die haben sich völlig ruhig verhalten und sind ganz bestimmt nich irgendwelche Regenrinnen hochgeklettert, um wo einzubrechen.« Er verzog das Gesicht, als wolle er noch etwas hinzufügen, besann sich jedoch eines Besseren.
    »Ja?« drängte Monk.
    Aber Miller ließ sich nicht erweichen. Monk fragte sich zum zweitenmal, ob seine Verschlossenheit ihrer früheren Begegnung entsprang, ob er einem anderen gegenüber gesprächiger gewesen wäre. Es gab so vieles, das er nicht wußte! Typische Polizeitricks zum Beispiel, Verbindungen zur Unterwelt - alles, was ein guter Detektiv eben wissen sollte. Immer wieder wurde er durch diese Unwissenheit blockiert, mußte er doppelt so hart arbeiten wie andere, um seine Verletzbarkeit geheimzuhalten. Was für ein Mensch war er in all den Jahren gewesen, seit er Northumberland als Junge verlassen hatte, um einen Ehrgeiz zu befriedigen, der ihn so sehr in Anspruch nahm, daß er seiner einzigen Verwandten, seiner jüngeren Schwester, nicht einmal regelmäßig schreiben konnte? Einer Schwester, die trotz seines Schweigens nie aufgehört hatte, ihn zu lieben? Er hatte ihre Briefe in seiner Wohnung gefunden - herzliche, warme Briefe, bis zum Rand gespickt mit Anspielungen auf Dinge, die ihm eigentlich bekannt sein sollten.
    Und nun saß er hier in diesem kleinen, blitzsauberen Haus und versuchte einen Mann zum Reden zu bringen, der offenkundig Angst vor ihm hatte. Weshalb? Unmöglich, danach zu fragen.
    »Sonst noch jemand?« erkundigte er sich statt dessen.
    »Jawohl, Sir«, platzte Miller endlich heraus. Er wollte unbedingt gefällig sein und bekam seine Nervosität allmählich in den Griff. »Ein Arzt, der in der Nähe der Kreuzung Harley und Queen Anne Street 'n Hausbesuch gemacht hat. Ich hab gesehen, wie er ging, aber nich, wie er kam.«
    »Wissen Sie, wie er heißt?«
    »Nein, Sir.« Millers Körper nahm eine geradezu drohende Haltung an, als würde er gleich sein Leben verteidigen müssen.
    »Aber ich sah, wie er ging. Die Haustür stand offen, und der Hausherr hat sich von ihm verabschiedet. Das halbe Haus war erleuchtet - der war bestimmt nich unaufgefordert da!«
    Monk zog flüchtig in Betracht, sich für die unbeabsichtigte Kränkung zu entschuldigen, sah jedoch davon ab. Für Miller war es bestimmt besser, wenn er nicht den Faden verlor.
    »Erinnern Sie sich, welches Haus es war?«
    »Das dritte oder vierte, Südseite Harley Street, Sir.«
    »Vielen Dank. Ich werde den Leuten einen Besuch abstatten; vielleicht haben sie ja was gesehen.« Im nachhinein wunderte er sich, warum er überhaupt eine Erklärung abgegeben hatte; es wäre absolut nicht nötig gewesen. Er stand auf, dankte Miller noch einmal und ging zur Hauptstraße zurück, um eine Droschke aufzutreiben. Eigentlich hätte Evan, der über seine Kontakte zur Unterwelt besser auf dem laufenden war, diese Aufgabe übernehmen sollen, aber dazu war es jetzt zu spät. Er selbst konnte lediglich seinen Instinkt und seinen Verstand benutzen und vergaß immer wieder, wieviel von seiner Erinnerung in dem Schattenreich verborgen war, das vor jener Nacht lag, als sich seine Kutsche überschlagen, ihm Arm und Rippen gebrochen, seine Identität und all das ausgelöscht hatte, was ihn mit der Vergangenheit verband.
    Wer sonst hätte nachts in der Gegend um
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