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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer
Autoren: Anne Perry
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der Straße davor von Kutschen nur so gewimmelt hatte.
    »Wäre unter den ganzen Lakaien und Kutschern ein Fremder überhaupt aufgefallen?« gab Monk zu bedenken.
    »Ja.« Evan hatte nicht den geringsten Zweifel. »Abgesehen davon, daß sie sich alle kannten, waren sie in Uniform. Jeder, der etwas anderes angehabt hätte, wäre genauso ins Auge gestochen wie ein Gaul auf einer Kuhweide.«
    Monk mußte unwillkürlich über diesen Vergleich aus der Welt des Landlebens schmunzeln. Evan war der Sohn eines Landpfarrers, was hin und wieder durch eine Bemerkung oder ein spezielles Verhalten deutlich zutage trat. Es war eins der vielen Dinge, die Monk an ihm mochte.
    »Einer von ihnen vielleicht?« fragte er selbst nicht sonderlich überzeugt, während er sich hinter dem Schreibtisch niederließ.
    Evan schüttelte resolut den Kopf. »Es muß ein einziges Geschnatter gewesen sein, bestimmt haben sie jede Menge Unsinn getrieben und mit den Mädchen geschäkert, aber die ganze Zeit brannten die Lampen an den Kutschen. Wenn jemand eine Regenrinne hochgeklettert wäre, um sich auf die Dächer zu schwingen, hätte man ihn im Handumdrehen entdeckt. Außerdem ging niemand alleine weg, da sind sie vollkommen sicher.«
    Monk verfolgte den Gedanken nicht weiter. Er glaubte nicht, daß es sich um den gescheiterten Einbruchversuch eines Lakaien handelte. Lakaien wurden nach ihrer Größe und ihrem guten Aussehen ausgewählt und fürchterlich herausgeputzt. Sie waren nicht dafür geeignet, an Regenrinnen hochzukraxeln und in schwindelnder Höhe an die Fassade geklammert im Finstern über Mauersimse zu balancieren. Für diese Kunst bedurfte es einiger Übung, und man widmete sich ihr in entsprechender Kleidung.
    »Dann muß er vom anderen Ende gekommen sein, von der Wimpole Street, und zwar als Miller diesen Teil seiner Streife gerade absolviert hatte und über die Harley zurückging. Wie steht's mit den Stallungen hinter der Harley Street?«
    »Unmöglich, über das Dach zu kommen, Sir«, erwiderte Evan. »Hab ich mir genau angesehen. Man hätte gute Aussichten, den Kutscher der Moidores und die Stallburschen zu wecken, die gleich über den Ställen schlafen. Außerdem spricht's nicht gerade für das Können eines Einbrechers, die Pferde scheu zu machen. Nein, Sir, von vorn hat man viel bessere Karten - mit dieser Regenrinne und den ganzen Kletterpflanzen, was, so wie die aussehen, anscheinend auch der Weg ist, den er benutzt hat. Sie haben recht, er muß während Millers Rundgang raufgeflitzt sein. War leicht genug, nach ihm Ausschau zu halten.«
    Monk zögerte. Er haßte es, seine Unzulänglichkeit preiszugeben, obwohl ihm klar war, daß Evan Bescheid wußte. Wenn er sich Runcorn gegenüber hätte verplappern wollen, hätte er es schon vor Wochen während des Mordfalls Grey getan, als Monk durcheinander, verängstigt und mit seinem Latein am Ende gewesen war, weil sich sein Verstand aufgrund der Erinnerungsfetzen, die immer wieder alptraumhaft vor ihm hochstiegen, regelrechte Schreckensbilder zusammenreimte. Evan und Hester Latterly waren die einzigen Menschen auf der Welt, denen er absolut vertrauen konnte. Doch an Hester wollte er lieber nicht denken, sie war keine besonders anziehende Person. Schlagartig sah er Imogen Latterly's Gesicht vor sich; Imogen, die ihn mit sanftem, furchtsamem Blick und leiser Stimme um Hilfe bat, deren Röcke raschelten wie Herbstlaub, wenn sie hinter ihm her ging. Aber Imogen war die Frau von Hesters Bruder und hätte genausogut irgendeine Prinzessin sein können, so unerreichbar war sie für ihn.
    »Soll ich mich mal in der Grinsenden Ratte umhören?« riß Evan ihn aus seinen Gedanken. »Wenn jemand eine Kette oder ein Paar Ohrringe an den Mann bringen will, wendet er sich zwangsläufig an einen Hehler, aber Gerüchte über einen Mord verbreiten sich gewöhnlich in Windeseile - vor allem, wenn es ein Mord ist, den die Polizei nicht einfach unter den Teppich kehren wird. Ein normaler Einbrecher wird damit nichts zu tun haben wollen.«
    »Gute Idee.« Das ließ er sich nicht zweimal sagen. »Ich nehme mir die Hehler und Pfandleiher vor, und Sie sehen zu, was Sie in der Grinsenden Ratte aufschnappen können.« Er angelte nach seiner ausgesprochen hübschen, goldenen Taschenuhr. Für diesen speziellen Beweis seiner Eitelkeit mußte er wirklich lange gespart haben. Seine Finger strichen wehmütig über die glatte Oberfläche. Er fühlte sich entsetzlich leer, weil für ihn alle Erinnerungen verloren waren,
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