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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer
Autoren: Anne Perry
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auch die angenehmen. Ruckartig ließ er den Deckel aufschnappen.
    »Jetzt ist genau die richtige Zeit dafür. Wir treffen uns dann morgen früh hier in meinem Büro.«
    Evan ging nach Hause, um sich umzuziehen, ehe er sich auf die Reise in die kriminelle Halbwelt machte, wo er von seinen hart erarbeiteten Kontakten zu profitieren hoffte. Das saubere Hemd und der recht manierliche, gutsitzende Mantel mochten zwar als Tracht eines geschickten Hochstaplers durchgehen, wahrscheinlicher war jedoch, daß man ihn für einen Sekretär mit gesellschaftlichen Ambitionen oder einen kleinen Geschäftsmann hielt.
    Als er seine Unterkunft eine Stunde nach dem Gespräch mit Monk verließ, sah er vollkommen anders aus. Das wellige hellbraune Haar war mit Pomade und Dreck durchsetzt, das Gesicht in ähnlicher Weise verschandelt. Seine Kleidung bestand aus einem alten Hemd ohne Kragen sowie einer Jacke, die ihm um die schmalen Schultern schlotterte. Außerdem besaß er für solche Gelegenheiten ein Paar Stiefel, die er einem Bettler abgeluchst hatte, nachdem dieser überraschend in den Besitz besserer gekommen war; sie scheuerten zwar am Fuß, aber mit einem zweiten Paar Socken ließ es sich einigermaßen gut darin gehen. So ausstaffiert machte er sich auf den Weg zur Grinsenden Ratte in der Pudding Lane, um einen Abend mit Apfelwein, Aalpastete und Ohrenspitzen zu verbringen.
    In London gab es Tausende von Lokalen aller Art: geräumige, hochangesehene Gasthäuser, in denen Bankette für den vornehmen und finanzkräftigen Teil der Bevölkerung ausgerichtet wurden; gemütliche, weniger protzige Pubs, in denen sich vom Rechtsanwalt bis zum Medizinstudenten, vom Schauspieler bis zum Möchtegernpolitiker alles tummelte; winzige Varietetheater, die Weltverbesserern, Volksdemagogen, Flugschriftenverfassern, Straßeneckenphilosophen und Mitgliedern der Arbeiterbewegung als Versammlungsort dienten; und am Ende der langen Reihe standen schließlich die finsteren Kaschemmen, die von Spielern, Abstaubern, Säufern und Auswüchsen der Verbrecherwelt besucht wurden. Die Grinsende Ratte fiel in die letzte Kategorie, weshalb Evan sie vor mehreren Jahren zu seinem Stammlokal auserkoren hatte. Mittlerweile wurde er dort, wenn auch nicht gerade geliebt, so doch wenigstens geduldet.
    Durch die Fenster der Grinsenden Ratte fiel trübes Licht auf den schmutzigen Gehsteig und die überquellende Gosse. Vor dem Eingang lungerte ein halbes Dutzend Männer nebst einigen Frauen herum, deren Kleidung so dunkel und farblos war, daß sie in dem gefilterten Schummerlicht wie diffuse Luftverdichtungen wirkten. Selbst als sich die Tür auftat und ein Mann und eine Frau unter lautem Gelächter Arm in Arm die Treppe hinuntertorkelten, war nichts zu erkennen als Braun, Dunkelgrau und ein flüchtiges Aufblitzen von gedämpftem Rot. Der Mann wich erschrocken zurück, woraufhin ihm eine weibliche Person, die halb im Rinnstein hockte, etwas Unflätiges hinterherschrie. Das Pärchen ignorierte sie und entschwand über die Pudding Lane in Richtung East Cheap.
    Evan ignorierte sie ebenfalls und ging hinein, um in der drückenden Wärme, dem wogenden Geschnatter und dem Geruch nach Bier, Sägespänen und Rauch unterzutauchen. Er rempelte sich an einer Gruppe Würfelspieler vorbei, an einer weiteren Menschenansammlung, die mit den Vorzügen ihrer Kampfhunde prahlte, an einem überzeugten Abstinenzler, der sein Credo umsonst in den Raum schrie, und blieb schließlich bei einem Exboxer mit verbeultem, gutmütigem Gesicht und trüben Augen stehen.
    »'n Abend, Tom«, sagte er freundlich.
    »'n Abend«, erwiderte der Boxer gnädig. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, wenn ihm der dazugehörige Name auch nicht einfallen wollte.
    »Willie Durkins gesehen?« erkundigte sich Evan beiläufig. Sein Blick fiel auf den fast leeren Bierkrug des Mannes. »Ich wollte mir gerade ein Pint Apfelwein holen. Möchten Sie auch eins?«
    Toms Kopf begann augenblicklich begeistert auf und ab zu nicken. Rasch trank er seinen Krug bis auf den letzten Tropfen aus.
    Evan nahm ihn mit, kämpfte sich zum Tresen vor und bestellte zwei Pint Apfelwein. Er hielt ein kurzes Schwätzchen mit dem Wirt, während dieser über seinen Kopf langte und einen der Krüge herunterholte, die dort oben in Reih und Glied an unzähligen Haken baumelten; jeder Stammgast hatte seinen eigenen. Wenig später kehrte er zu Tom zurück, der ihn sehnsüchtig erwartete, und reichte ihm seinen Wein. Nachdem Tom die Hälfte davon
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