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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer
Autoren: Anne Perry
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den Kopf.
    »Ich weiß nix«, sagte Willie aus Gewohnheit.
    »Schon möglich. Aber Sie kennen die Einbrecher, die in der Gegend arbeiten.«
    »Von denen war's bestimmt keiner«, wehrte Willie schleunigst ab.
    Evan schnitt eine Grimasse. »Und einen Fremden würden Sie natürlich auch nicht erkennen«, meinte er sarkastisch.
    Willie sah ihn schief an; er überlegte. Dieser Evan mit seinem Träumergesicht, das besser zu einem Gentleman passen würde als zu einem Bullen, machte einen ziemlich naiven Eindruck. Der war ein ganz anderes Kaliber als Monk; das war einer, mit dem man sich besser nicht anlegte, so ein ehrgeiziger Kerl mit abartig verbogenen Gehirnwindungen und einer furchtbar scharfen Zunge. Man brauchte nur einen einzigen Blick auf den zusammengepreßten Kiefer und die stechenden, grauen Augen zu werfen, und wußte sofort, daß es gefährlich war, Spielchen mit ihm zu treiben.
    »Die Tochter von Sir Basil Moidore«, sagte Evan mehr zu sich selbst. »Irgendwen werden sie dafür hängen - das müssen sie. Wenn nötig, werden sie vorher 'ne Menge Leute verrückt machen.«
    »Schon gut, schon gut!« fauchte Willie widerstrebend.
    »Chinesen-Paddy hat sich letzte Nacht da oben rumgetrieben. Der hat nix damit zu tun, hatte nich die Gelegenheit, also können Se dem auch nix anhängen; is sauber wie 'n frischgewaschenes Hemd. Aber fragen können Se ihn. Wenn der Ihnen nich helfen kann, dann niemand. Und jetzt lassen Se mich in Ruhe! Is nich gut für 'n Ruf, wenn ich hier stundenlang mit so Typen wie euch rumsteh.«
    »Und wo finde ich diesen Chinesen-Paddy?« Evan packte Willie so fest am Arm, daß der Mann schrill aufquiekte.
    »He, loslassen, Mann! Wolln Se mir den Arm brechen?«
    Evan verstärkte den Griff.
    »Dark House Lane, Billingsgate - morgen früh, wenn der Markt aufmacht. Is nich schwer zu erkennen, hat Haare so schwarz wie 'ne Schornsteinbürste und Schlitzaugen wie 'n waschechter Chinese. Jetzt lassen Se schon los!«
    Evan tat ihm den Gefallen, und binnen einer Minute war Willie über die Mincing Lane in Richtung der Stufen verschwunden, die zum Fährenanlegeplatz am Fluß hinunterführten.
    Evan ging auf direktem Weg nach Hause, wusch sich den gröbsten Dreck vom Gesicht und legte sich hin.
    Um fünf Uhr morgens stand er wieder auf, sprang in dieselben alten Klamotten und fuhr mit diversen Omnibussen nach Billingsgate. Um Viertel nach sechs stand er in einem unüberschaubaren Gewimmel aus Obstverkäufer-, Fischhändlerkarren und Rollwagen an der Kreuzung zur Dark House Lane. Die Gasse war so schmal, daß die Häuser auf jeder Seite wie gigantische Felsen gen Himmel ragten. Die frisches Eis anpreisenden Reklameschilder nahmen die gesamte Straßenbreite ein. Auf beiden Seiten türmten sich Berge von soeben gefangenem, noch nassem, glitschigem Fisch aller Art auf wackligen Holzbänken; dahinter standen brüllende Verkäufer in Schürzen, die genauso glänzten wie die fetten Bäuche der Fische. Auf den Köpfen hatten sie weiße Hüte, die sich fahl gegen das dunkle Gemäuer im Hintergrund abhoben.
    Ein Fischträger mit einem Korb voll Schellfisch auf dem Kopf konnte sich nur mit Mühe an der doppelten Reihe Kaufwilliger vorbeizwängen, die den schmalen Durchgang zur Mitte der Gasse verstopften. Am anderen Ende konnte Evan gerade noch die verworrene Takelage von Austernfängern und hier und da das Aufblitzen einer roten Matrosenmütze über dem Wasser erkennen.
    Die Ausdünstungen nahmen einem fast den Atem. Bücklinge, alle Sorten Weißfisch von der Sprotte bis zum Steinbutt, Hummer, Schnecken - und über allem der Geruch von Salzwasser und Seetang, als ob man sich tatsächlich am Strand befinden würde. Evan fühlte sich schlagartig in die Kindheitsausflüge ans Meer zurückversetzt und dachte an kaltes Wasser und Krebse, die seitlich über den Sand krochen.
    Was es hier allerdings nicht gab. Statt des sanften Murmelns der Wellen erscholl um ihn herum eine Kakophonie hundert verschiedener Stimmen: »Hierher, Leute! Hierher! Prima Bücklinge! Weißfisch! Lebendiger Steinbutt! Prächtige Hummer! Erstklassige, lebende Krebse! Herrlicher Rochen - noch am Leben superbillig! Der beste aufm ganzen Markt! Fangfrischer Hering! Pfefferminzbonbons - genau das richtige an so 'nem kalten Tag! Halber Penny das Glas! Kommen Se ruhig näher, Sir! Rosinen und Fleischpasteten, 'n halber Penny das Stück! Hierher, Ma'am! Riechen Se mal! Flossenschellfisch! Lebende Scholle! Schnecken - Miesmuscheln - greifen Se zu! Garnelen!
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