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Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben

Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben

Titel: Gefaehrliche Gedanken - Zu schoen zum sterben
Autoren: Hanna Dietz
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niemand darin. Und zu meiner noch größeren Erleichterung entdeckte ich das grüne leuchtende Schild des Notausgangs an der gegenüberliegenden Wand, links von der aufgeklappten Tafel. Wunderbar! Boutiquen, ich komme! Leise schloss ich hinter mir die Tür. Auf dem Weg zum Notausgang mit dem kleinen vergitterten Sichtfenster blickte ich mich um. Plakate mit der DNS-Doppelspirale und einer Übersicht über die Tierarten hingen an den Wänden. Eindeutig der Bioraum. Es roch merkwürdig. Muffig. Igitt. Als ob hier irgendeiner ein fieses Experiment gemacht hätte. Und dann sah ich, dass ich doch nicht allein war. Da saß ein Mädchen auf einem Stuhl am Ende des Raumes, gegenüber einer weiteren Tür, die in den Nachbarraum zu führen schien. Sie hatte mir den Rücken zugedreht. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich nicht einfach weitergegangen bin. Warum ich sie nicht einfach ignoriert habe, so wie sie mich. Denn sie rührte sich kein bisschen. Auch als ich Hallo sagte, antwortete sie nicht. Noch so eine arrogante Ziege, dachte ich. Die sollten hier dringend mal einen Grundkurs in Sachen Höflichkeit anbieten. Trotzdem blieb ich stehen. Es mag daran gelegen haben, dass sie viel zu luftig angezogen war für November. Aber was mich am meisten irritierte, war die Art, wie sie auf dem Stuhl saß. So krumm, so verdreht. Die Arme komisch abgewinkelt. Und auch die Beine merkwürdig von sich gestreckt. Und der Kopf erst! Er war zur Seite gedreht, das Gesicht schaute zur Decke, der Hals war total überdehnt. So würde kein normaler Mensch sitzen. Mir wurde mulmig.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich zaghaft. Keine Antwort. Langsam ging ich näher, hielt mich dabei aber an der Wand. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis nach einem Sicherheitsabstand wie zu einem bissigen Hund. Mein Herz klopfte wild. Und dann, als ich sie im Profil sehen konnte, wurde mir klar, warum sie nicht geantwortet hatte. Ein Messer steckte in ihrer Brust. Der Schaft war hellbraun. Um die Einstichstelle herum war Blut. Rotes Blut. Richtiges echtes rotes Blut. Auf der nackten Haut ihres Dekolletees. Auf ihrer weißen Bluse, auf der sich ein großer Fleck ausgebreitet hatte. Die Augen starrten leblos an die Decke. Ihr Mund mit den blassen, wächsernen Lippen war leicht geöffnet. Ein Tropfen Blut klebte in ihrem Mundwinkel und verstärkte den Eindruck der großen Verzweiflung, die sie in diesem letzten Augenblick ihres Lebens überkommen hatte. Oh. Mein. Gott. Insgesamt dauerte es vielleicht nur eineinhalb Sekunden, bis das Bild von meiner Netzhaut ins Hirn gekrochen war, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis es sich in meinem Bewusstsein zu einer Feststellung materialisiert hatte und ich verstand, was ich da sah: eine Leiche. Auf dem Stuhl am Ende des Raumes saß ein totes Mädchen in Spitzenbluse, Minirock und Pumps mit einem Messer in der Brust und vor ihren Füßen lagen Blumen wie ein letzter Gruß. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte zurück auf den Flur, donnerte die Tür hinter mir zu, schleppte mich auf steifen Beinen zum Mülleimer und kotzte, Butterbrot und Orangensaft, Fruchtgummis, Magensäure und jede Menge Angst. Tränen traten mir in die Augen, als ich immer wieder würgen musste. Deswegen sah ich ihn nicht kommen.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragte er, plötzlich neben mir stehend. »Alles in Ordnung?«
    So eine bescheuerte Frage konnte ja auch nur von ihm kommen, dem aufdringlichsten Bodyguard aller Zeiten, der mir seit drei Tagen mit seiner Daueranwesenheit das Leben zur Hölle machte. Wie kann alles in Ordnung sein, wenn ich mir gerade die Seele aus dem Leib kotze, hätte ich gerne geantwortet, aber der Schock saß zu tief und ich war noch nicht in der Lage zu sprechen. Ich stützte mich auf den Rand des Mülleimers, immer noch über den besudelten Abfall gebeugt.
    »Tief ein- und ausatmen«, sagte Enzo. »Das hilft mir…«
    »Da ist eine Leiche«, stieß ich hervor. »In dem Raum da!«
    »Was?«
    Ich richtete mich auf und nickte. Enzo musterte mich misstrauisch, ging aber dann doch zu der Tür, neben der ein kleines Schild anzeigte, dass es sich um das Biologielabor handelte. Ich blieb in sicherem Abstand stehen. Das Bild der Leiche war mir mehr als präsent vor Augen und das reichte mir für den Rest meines Lebens. Enzo rüttelte am Türknauf, der sich nicht drehen ließ. »Sie ist zu.«
    »Hol die Schulleitung!«, keuchte ich.
    Enzo stutzte einen Moment, dann lachte er leise. »Genau. Und ich lass mir dabei viel Zeit.
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