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Gefährlich nah

Titel: Gefährlich nah
Autoren: C. Bertelsmann
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Einer der Familientherapeuten hatte schließlich vorgeschlagen, dass sie alle aus Liverpool fortziehen sollten, fort aus dem Haus mit seinen Erinnerungen. Es schien sinnvoll, dass sie in die Nähe von Dads Eltern zogen, und die Planungen für den Umzug hatten Dad auch tatsächlich etwas aufgemuntert. So sehr, dass er sich sogar auf Stellen bewarb und gleich das erste Bewerbungsgespräch so erfolgreich verlief, dass er als Dozent an einem College angenommen wurde. Aber die Verbesserung hatte nicht lange angehalten. Schon im August war er wieder in eine tiefe Depression verfallen und musste den Job aufgeben, noch bevor er überhaupt angefangen hatte. Und nun versuchte Gran, eine andere
Therapie für ihn zu arrangieren, und was als Zwischenlösung gedacht gewesen war, dass sie bei ihnen wohnten, schien sich eher zum Dauerzustand zu entwickeln.
    Nicht dass es Dee etwas ausgemacht hätte, hier zu wohnen. Es nahm ihr einen Teil des Drucks ab, und sie war immer gut mit ihren Großeltern ausgekommen, die beide Anfang siebzig und glücklicherweise bei guter Gesundheit waren. Aber es war bestimmt nicht einfach für sie. Es war nicht ideal. Anstatt zu reisen und Kreuzfahrten zu machen, wie sie es vorgehabt hatten, und ihren Ruhestand zu genießen, hatten die beiden sich nun einen ganzen Haufen Ärger und Sorgen aufgebürdet, und trotz Granddads aufmunternder Bemerkung machte Dee sich Sorgen. Es war jetzt fast zwei Jahre her, aber weder Dad noch Scott ging es wirklich besser.
    »Es braucht noch Zeit, Dee«, sagte Granddad.
    Dee nickte, bevor sie nach oben ging, um nach Scott zu sehen. Vielleicht war die Zeit aber auch das Problem, dachte sie, als sie in Scotts Tür stand und ihn beobachtete, wie er mit seiner Maus herumklickte und Fantasiewelten baute. Weil es in Dads Fall sicherlich nicht nur das war, was vor zwei Jahren geschehen war, sondern vor allem das, was davor gewesen war. Jahre einer Traumatisierung, die sie kaum bemerkt und kaum verstanden hatte und die sich langsam aufgebaut und nur darauf gewartet hatte zu explodieren. Warum hatte sie nichts bemerkt? Wie konnte sie nur so blind gewesen sein?
    »Die Leute sehen die Anzeichen nicht immer«, hatte einer der Therapeuten versucht, ihr zu erklären. »Und
wenn sie es tun, dann interpretieren sie es oft falsch. Ihr wart noch Kinder. Man konnte von euch nicht erwarten, dass ihr es merkt.«
    Schon allein der Gedanke ließ Dee erschauern. Sie ging in ihr eigenes Zimmer, das kleine nach hinten raus, stellte die Heizung an und setzte sich aufs Bett. Dann nahm sie ein Bild vom Nachttisch. Eines der wenigen Fotos aus ihrer frühen Kindheit, die es noch gab, die nicht zerstört worden waren. Dieses hier war im Knowsley-Safari-Park aufgenommen worden.
    Es zeigte sie im Vordergrund, wie sie auf Kierans Buggy balancierte, Dad hatte den Arm um sie geschlungen, damit sie nicht herunterfiel. Mum stand gleich daneben. Alle vier zusammen, fünf, wenn man Scott dazuzählte, der nur als sehr große Wölbung von Mums Bauch sichtbar war. Wer hatte das Foto gemacht? Vielleicht einer ihrer Großeltern? Ein vorbeikommender Fremder? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie konnte sich überhaupt nicht sehr gut an diesen Tag erinnern. Ja, noch schlimmer sogar, sie konnte sich überhaupt nur sehr wenig an ihre Mutter erinnern. Es war, als wären alle Erinnerungen ausgelöscht und zusammen mit den Fotos zerstört worden. Oder waren sie nur durch Erinnerungen an eine andere ersetzt worden? An sie . Lauren. Jemanden, den Dee eigentlich lieber vergessen hätte.
    Dee starrte das Foto an und versuchte, an ihre Mutter zu denken, was sie an diesem Tag getan und was sie gefühlt hatten. Es musste ein guter Tag gewesen sein. Jedenfalls sahen sie alle glücklich aus. Mum lächelte, entspannt
und zuversichtlich. Und warum auch nicht? Sie hatte ja keine Ahnung, oder? Dass ihr Leben in achtzehn Monaten vorbei sein würde, ausgelöscht von ein paar besoffenen Teenagern, die ein gestohlenes Auto fuhren. Dee fühlte wieder einmal den vertrauten Schmerz, der ihre Rippen umklammerte. Ein Schmerz, der mehr mit Wut zu tun hatte als mit dem Verlust. Wenn ihre Mutter an jenem Abend nicht zu ihrer Freundin gefahren wäre, wenn diese Jungs nicht das Auto gestohlen hätten, wenn Mum nicht gestorben wäre, dann hätte Dad sich nie mit Lauren eingelassen. Und nichts von all dem hier wäre geschehen.
    Dee knallte das Foto auf den Tisch. Was hatte das für einen Sinn? Sie sollte lieber nach vorne schauen, anstatt zurück. Sie zog
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