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Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg

Titel: Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Es gibt sanierte und verschlankte Industrieanlagen und Industrieruinen, die zu Filmkulissen werden. Es gibt Seen, Kiesgruben und Sanddünen. Es gibt Felder mit Kartoffeln, Getreide und Mais. Es gibt Kuhställe, Kirchen und Kneipen. Und es gibt Landadel. Der Ludwigsfelder Landadel residierte einst in Schloss Genshagen. Das ist, wie viele Schlösser in Brandenburg heute, eine Tagungsstätte.
    So gesehen hätte ich gar nicht brandenburgischer aufwachsen können. Um wirklich jeden Zweifel an meiner Identität auszuräumen, erbringt Ludwigsfelde auch den letzten Beweis: vor einigen Jahren eröffnete die Kristalltherme, ein Thermalbad mit ausgedehnter Saunalandschaft. Saunen, Schwimmen und gesundes Baden gehören in Brandenburg zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Mithilfe großzügig gefüllter Nachwende-Fördertöpfe wurden unzählige Wellness-, Spaß- oder Thermalbäder auf den Acker gesetzt. Man sollte jetzt nicht der irrigen Vorstellung erliegen, der märkische Sand sitze besonders hartnäckig hinter den Ohren. Auch die Vorstellung, die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit oder überzeugte SED-Genossen im Land hätten eine Möglichkeit gesucht, sich reinzuwaschen, ist falsch. Wahr ist, dass die Landeshauptstadt Potsdam neben der Hochschule für Staatssicherheit eine juristische Fakultät besaß, in der ausschließlich Marxismus-Leninismus unterrichtet wurde, und dass sich in Strausberg noch immer alte Herren aus Stasi-Seilschaften zum Kaffeekränzchen treffen. Wahr ist auch Wandlitz. Das heute beliebte Ausflugsziel beherbergte einst die Wohnsiedlung der SED-Führung. Aber dass man sich ausgerechnet von Bädern nach der Wende Arbeitsplätze versprach, deutet auf etwas anderes hin: Erstens musste man sich nach der industriellen Bankrotterklärung schnell etwas einfallen lassen. Zweitens sind die Brandenburger beim Baden besonders bei sich. Baden berauscht. Und der Rausch ist in diesen Breitengraden, kommt er nicht vom Alkohol, ein seltener Zustand.
    Wie Sie bereits bemerkt haben, ist Brandenburg also ein sehr junges und gleichzeitig ein sehr altes Land. Außerdem ist es ein Land mit einem starken Nord-Süd-Unterschied. Seine Bewohner des Nordens, die Prignitzer oder die Uckermärker, erkennt man an ihrer norddeutschen Zurückhaltung und einer zarten Herbheit. Die Niederlausitzer und die Fläminger aus dem Süden, die dem Preußischen weniger lange ausgesetzt waren, legen die sanfte Gangart von Mittelgebirgsmenschen an den Tag. Ein Riss geht auch beim Wetter durchs Land. Der Nordwesten steht unter dem milden Einfluss des atlantisch-maritimen Klimas, der Südosten befindet sich in der rauen Kontinentalklimazone. So gesehen kann man in Brandenburg von Sibirien nach Italien reisen. König Wilhelm IV., der einzige Romantiker auf dem preußischen Thron, der dummerweise auf der sibirischen Seite stand, glaubte, die Wetterverhältnisse ändern zu können. Gotteshäuser im italienischen Stil wie die Friedenskirche im Potsdamer Park Sanssouci sollten den Himmel gnädig stimmen.
    Auch das Brandenburger Tourismusmarketing hat sich des magischen Denkens bedient. Auf den rot-blauen Schildern, die an der Autobahn die Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern markieren, steht: »Brandenburg. Neue Perspektiven entdecken«. Diese Formulierung, die es nicht bis zu einem vollständigen Satz, aber in einen hoffnungsfrohen Imperativ schafft, in dem das preußische Echo nur leise nachhallt, passt zu den spargelstangendünnen Kiefern, die rechts und links der Fahrbahn stramm in den Himmel schießen: Man ist auf dem Weg nach oben. Nur die landesunkundige Autofahrerin mag nun unsicher nach den Perspektiven Ausschau halten, wobei ihr ein Reh auf offenem Feld, ein im Licht gleißender Birkenstamm oder ein trunken stiller See ins Blickfeld gerät. Die Landesbewohner wissen, dass es sich hier um eine Beschwörungsformel handelt: Man entwickelt sich noch. Die Gegenwart ist vielleicht noch etwas trübe, aber anders betrachtet lässt sich darin schon die Zukunft erblicken.
    Nun ist von den Bewohnern an den äußeren Grenzen des Landes rein gar nichts zu sehen. Weshalb die kluge Unkundige sich wieder auf die Landschaft konzentriert, auf die Weite des Horizonts, die sanften Wellen der Wiesen, das Gestolper der feldsteinübersäten Äcker, bis sie schließlich immer weiter in die Endlosigkeit vom Wind bewegter Getreideähren hineingezogen wird. Sie fährt durch Lindenalleen und Straßendörfer, über Katzenkopfpflaster,
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