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Gebrauchsanweisung fuer Oesterreich

Gebrauchsanweisung fuer Oesterreich

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Oesterreich
Autoren: Heinrich Steinfest
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eines deutschen Sozialdemokraten: verschachtelt, verschoben, grotesk, unwirklich, gleichzeitig aber – weil das nun mal Sinn des Kubismus ist – wahrhaftiger und kompletter. Wenn ein österreichischer Sozialdemokrat ein Gauner ist, dann er ist ein kompletter Gauner, wenn er ein Engel ist, ein kompletter Engel.
    Von diesem Standpunkt aus könnte man die bekannte Todessehnsucht der Österreicher als eine Sehnsucht nach dem Diesseits definieren, als Sehnsucht nach einem ganz normalen Leben, wie die Leute es in Deutschland oder anderswo fuhren. Gleichzeitig steckt in dieser Todessehnsucht auch eine große Koketterie, denn das normale Leben ist ja nicht wirklich erstrebenswert. Darum glaube ich, daß hinter der angeblichen Todessehnsucht ein bloßes Beleidigtsein verborgen ist, ganz in der Art, wie man das von Menschen kennt, die mit Selbstmord drohen, um die Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Umgebung zu gewinnen. Der Österreicher als solcher redet und singt und schreibt unentwegt über den Tod, spielt mit dem Gedanken an das eigene Sterben, ja er scheint von einer pathologischen Liebe zu todesnahen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Arztpraxen und selbstredend Friedhöfen beherrscht, doch er tut dies alles nur, um den Tod in Schach zu halten, ihn zu verblüffen, ihn zu paralysieren. Der Österreicher steigt mit dem Tod in den Ring, im Bewußtsein eines Gegners von hoher kämpferischer Qualität, der noch dazu im Ruf steht, letztendlich jeden Kampf zu gewinnen.
    Doch genau im Ignorieren dieser finalen Überlegenheit des Todes besteht ein österreichischer Charakterzug. Der Österreicher ist der geborene Hypochonder, welcher zwar frühzeitig die eigene Krankheitsanfälligkeit, die eigene Schwäche thematisiert und vor allem die Unsportlichkeit des Gegners beklagt – die Schläge in den Unterleib, die Attacken lange nach dem Pausengong, die blöden Sprüche –, andererseits aber nicht aufgibt, immer so tut, als existiere eine nächste Runde. Der Hypochonder jammert sich von Runde zu Runde. Wenn er schlußendlich den Kampf verliert, dann will er nichts davon wissen. Der im Sterben liegende Österreicher wird also nicht etwa milde oder weise oder devot. Nicht einmal gottesfürchtig, so katholisch er sein mag. Selbst an das Bett gefesselt, läuft er im Ring umher, die Hände nach oben gestreckt, als sei er der Sieger. Ja als habe er noch rasch einen neuen Boxverband gegründet, nach dessen Regeln nur ein Österreicher gewinnen kann. Mancher Tod kann da bloß noch kopfschüttelnd – ein Sieger, aber kein Triumphator – die Kampffläche verlassen.
    Hier soll nicht über das Sterben gespottet werden. So wenig, wie der Umstand einer hohen Selbstmordrate zu ignorieren ist. Die obsessive Auseinandersetzung mit dem Tod hat neben ihrer humorvollen, spielerischen, künstlerischen und allgemeinphilosophischen Seite eben auch viele tragische Facetten. Nicht allen ist es gegeben, mittels einer regenerativen Hypochondrie sich immer wieder auf die Beine zu holen. Denn es ist allen Ernstes so, daß man als Österreicher mit all diesen Todesgedanken und Todesphantasien aufwächst, sie als fundamental erkennt. Unmöglich, sie zu ignorieren. Darum auch die Liebe zur Kirche, also zum Kirchengebäude, zum sakralen Raum, zu den vielen Darstellungen des Todes und seiner Erhöhung ins Graphische. Selbst der ungetaufte oder ungläubige Österreicher fühlt sich von diesen Räumen angezogen, da man in ihnen eine risikolose Todesnähe erfahren kann. Hier wird die Koketterie praktisch auf die Spitze getrieben. Das Kirchenschiff durchschreitend, den Altar betrachtend, eine Kerze entzündend, darf man sich halb schon im Himmel fühlen.
    Die Hölle hingegen scheint für den Österreicher keine echte Bedeutung zu besitzen. Besser gesagt: Er fürchtet sich nicht davor. Seinem theatralischen Wesen gemäß sieht er die Hölle im Hier und Jetzt, in den Auseinandersetzungen mit den Wohnungsnachbarn, im Krieg mit den bürokratischen Schlangen und beamteten Hydras, im schlechter werdenden Fernsehprogramm oder in der Zusammensetzung der jeweiligen Regierung.
    Allerdings kommt es auf die Farbe oder Färbung dieser Regierung nicht wirklich an. Natürlich besteht eine traditionelle Unterscheidung zwischen den eher christlich geprägten ländlichen Regionen, die schwarz wählen, und den urbanen Arbeiterhochburgen und Ballungsräumen, die eher für die Roten votieren. Und natürlich sind alle zusammen von jenem grundsätzlichen Ressentiment geprägt, welches von den
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