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Garou

Garou

Titel: Garou
Autoren: Leonie Swann
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Blätter herumzugrasen.
    An den Flanken der Weide waren links der Obstgarten und rechts die Ziegenweide. Auf der Ziegenweide gab es gar nichts Großes. Nur Ziegen. Hinter den beiden Weiden war der Wald, fremd und flüsternd und viel zu nah, vor ihnen der Hof mit Stallungen und Wohnhäusern, Kaminen, die rauchten, und Menschen, die Krach machten, und direkt daneben, nah und grau und massiv wie ein Kürbis, das Schloss. Weil ihre Weide zum Wald hin etwas anstieg, konnte man es hervorragend sehen.
    »So groß wie das Schloss!«, sagte Cloud triumphierend.
    Die Schafe staunten. Das Schloss war wirklich ausgesprochen groß. Es hatte einen spitzen Turm und viele Fenster und schnitt ihnen jeden Abend viel zu früh die Sonne ab. Ein Heuhaufen wäre da eine willkommene Abwechslung gewesen.
    Etwas knallte. Die Schafe erschraken.
    Dann streckten sie neugierig die Hälse.
    Etwas war aus dem Schäferwagenfenster geflogen. Schon wieder!
    Die Herde setzte sich in Bewegung. Neuerdings flogen öfters Dinge aus dem Schäferwagen, und manchmal war etwas Interessantes dabei. Ein Topf mit nur leicht angebranntem Haferbrei zum Beispiel, eine Zimmerpflanze, eine Zeitung. Die Zimmerpflanze hatte Blähungen verursacht. Die Zeitung hatte nur Mopple geschmeckt.
    Heute war kein schlechter Tag: vor ihnen, im Schnee, lag ein Wollpullover. Rebeccas Wollpullover. Der Wollpullover. Die Schafe mochten diesen Pullover mehr als alle anderen. Er war das einzige Kleidungsstück, das sie verstanden. Schön und schafsfarben, dick und fellig - und er roch. Nicht nur einfach vage nach Schaf wie viele Wollpullis, sondern nach bestimmten Schafen. Einer Herde, die am Meer gelebt hatte, salzige Kräuter gegrast, sandigen Boden betrabt, weit gereisten Wind geatmet. Wer ganz genau hinroch, konnte sogar einzelne Schafspersönlichkeiten herauswittern. Da war ein erfahrenes, milchiges Mutterschaf, ein harziger Widder und das hagere, zottige Schaf vom Rande der Herde. Da waren Löwenzahn und Sonne und Möwenschreie im Wind.
    Die Schafe sogen das wollige Aroma des Pullovers ein und seufzten. Sie sehnten sich nach ihrer alten Weide in Irland, nach der Weite und dem grauen Murmeln des Meeres, nach Klippen und Strand und Möwen und sogar nach dem Wind. Mittlerweile war die Sache klar: der Wind sollte reisen - Schafe sollten daheimbleiben.
    Die Schäferwagentür ging auf, und Rebecca die Schäferin stapfte die Stufen herunter, mit schmalen Lippen und kurzen, wütenden Schritten. Sie hob den Pullover aus dem Schnee und machte dem Geruchsvergnügen ein jähes Ende.
    »Es reicht!«, murmelte sie mit gefährlich gerunzelten Brauen und klopfte Schneekristalle aus dem Wollstrick. »Es reicht! Sie fliegt raus! Diesmal fliegt sie raus!«
    Die Schafe wussten es besser. Alles Mögliche flog aus dem Schäferwagen, aber nicht sie. Sie bewegte sich überhaupt selten, dann aber überraschend schnell. Die Schafe bezweifelten sogar, ob sie durch das Schäferwagenfenster passen würde.
    Rebecca schien es auch zu bezweifeln. Sie blickte auf ihren Pulli hinunter und seufzte tief.
    Ein Gesicht erschien, seltsam weich und breit im milchigen Glas des Schäferwagenfensters, und starrte missbilligend auf Rebecca und die Schafe herunter. Rebecca sah nicht hin. Die Schafe starrten fasziniert zurück. Dann war das Gesicht auch schon wieder verschwunden, dafür ging die Schäferwagentür auf. Aber niemand trat heraus.
    »Das stinkende Ding kommt mir nicht mehr ins Haus!«, zeterte es aus dem Schäferwagen.
    Rebecca holte tief Luft.
    »Es ist kein Haus«, sagte sie gefährlich leise. »Und es ist schon gar nicht dein Haus. Das ist ein Schäferwagen. Mein Schäferwagen. Und der Pulli stinkt nicht. Er riecht nach Schaf Das ist normal, wenn er feucht wird. Schafe riechen auch nach Schaf, wenn sie feucht sind! Schafe riechen immer nach Schaf«
    »Genau!«, blökte Maude.
    »Genau!«, blökten die anderen Schafe. Maude war das Schaf mit der besten Nase der Herde. Sie kannte sich mit Gerüchen aus.
    Eisiges Schweigen wehte aus dem Schäferwagen. »Und sie stinken nicht!«, fauchte Rebecca. »Das Einzige, was hier stinkt, sind deine ...«
    Sie brach ab und seufzte wieder. »Fläschchen!«, blökte Heide. »Puder!«, blökte Cordelia.
    »Und die Ziegen!«, ergänzte Maude der Vollständigkeit halber.
    Die Schafe konnten spüren, wie sich das Schweigen im Schäferwagen zu einer kleinen dunklen Wolke verdichtete. Und die Wolke dachte.
    »Na und?«, kreischte sie dann. »Von mir aus können sie nach Schaf
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