Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garou

Garou

Titel: Garou
Autoren: Leonie Swann
Vom Netzwerk:
weißen Tuch die Augen.
    »Okay!«, blökten die Schafe. Sie wussten, was als Nächstes kommen würde: Zigaretten. Mama auf den Stufen des Schäferwagens, Rebecca etwas weiter oben am Hang, an den Schrank gelehnt, der unerklärt und unerklärbar unter der alten Eiche stand.
    Rauch und Schweigen.
    Auch die Schafe schwiegen, scharrten im Schnee, grasten feuchtes Wintergras oder taten wenigstens so. Alle warteten auf etwas, das gleich passieren würde. Etwas, das man kaum sehen, dafür aber sehr gut riechen konnte.
    Auf ihrer Weide gab es ein fremdes Schaf. Es war vor ihnen hier gewesen, nicht auf der Schafweide, aber im Apfelgarten und auf dem schmalen Wiesenstück zwischen Weide und Waldrand. Jetzt war es bei ihnen und drückte sich Tag für Tag am Weidezaun herum.
    Immer wenn Rebecca sich rauchend an den Schrank lehnte, erstarrte der Fremde. Er bewegte nichts, kein Ohr, keine Wimper, nicht einmal die Schwanzspitze. Aber er roch. Roch wie reinste, blindeste Panik. Wie ein Lamm, das vor wilden Hunden über das Moor flieht. Nicht dass die Schafe je vor wilden Hunden über das Moor geflohen waren, zum Glück nicht, aber sie konnten es sich sehr gut vorstellen.
    Die Sache machte die Schafe nervös.
    Der Fremde war im Allgemeinen kein furchtsames Schaf. Er fürchtete sich nicht vor Tess, der alten Schäferhündin, die meistens auf den Stufen des Schäferwagens schlief, und vor Othellos vier schwarzen Hörnern fürchtete er sich auch nicht. Aber er fürchtete sich vor Rebecca, wenn sie rauchend am Schrank lehnte und über die Weide blickte. Er fürchtete sich wie verrückt.
    Endlich drückte Rebecca ihre Zigarette aus, steckte sie sorgfältig in die Tasche und ging wieder hinunter zum Schäferwagen. Der Fremde entspannte sich und begann zu murmeln. Die anderen Schafe schlackerten mit Ohren und Schwänzen und versuchten, das Schweigen wieder abzuschütteln.
    Der Fremde ging ihnen auf die Nerven. Er roch nicht wirklich wie ein Schaf, er verhielt sich nicht wie ein Schaf, und vor allem sah er nicht aus wie ein Schaf. Eher wie ein großer, unförmiger, bemooster Stein.
    Miss Maple, das klügste Schaf der Herde und vielleicht der Welt, behauptete, dass er trotzdem ein Schaf war. Ein einsames Schaf, das seit Jahren niemand mehr geschoren hatte, mit einer großen Masse filziger, steifer grauer Wolle auf dem Rücken - und einer Geschichte, die niemand kannte.
    »Sie werden sich aneinander gewöhnen!«, hatte Rebecca gesagt, als sie zusammen mit dem Ziegenhirten das Fremdlingsschaf aus dem Apfelgarten auf ihre Weide hinüber getrieben hatte.
    Der Ziegenhirt hatte die Augen zusammengekniffen und gehustet. Vielleicht war es auch ein staubiges Lachen gewesen.
    Sie hatten sich nicht gewöhnt, kein bisschen. Im Gegenteil: mit jedem Tag kam ihnen der ungeschorene Widder ein wenig fremder vor. Und ein bisschen ferner.
    Er war unter ihnen, aber nicht bei ihnen, er bewegte sich in einer Herde, aber nicht in ihrer Herde. Manchmal hatten sie das Gefühl, dass der Fremde sie gar nicht sah. Er sah andere Schafe, Schafe, die sonst niemand sehen konnte.
    Geisterschafe.
    Gespenster.
    Jetzt gab der Ungeschorene seinen Spähposten oben am Waldrand auf und trabte quer über die Weide, vorbei an Heuschuppen und Schäferwagen, mit einem Hops über den kleinen Bach bis hinunter zu der Ecke am Apfelgarten, murmelnd und mahnend, eine Schar unsichtbarer Schafe im Schlepptau.
    Die Schafe sahen nicht hin. Alle bis auf Sir Ritchfield.
    »Ich glaube... das ist ein Schaf«, blökte Ritchfield aufgeregt. Der alte Leitwidder interessierte sich momentan sehr für die Frage, wer ein Schaf war - und wer nicht.
    Die anderen seufzten.
    Wieder einmal fragten sie sich, ob die Fahrt nach Europa wirklich eine so gute Idee gewesen war.
    Sie hatten die Reise von George geerbt, ihrem früheren Schäfer. George war eines Tages einfach reglos auf ihrer Weide gelegen, einen Spaten im Leib. Die Schafe selbst hatten damit nichts zu tun gehabt - nun ja, zumindest nicht viel -, aber sie hatten geerbt: eine Reise nach Europa, den Schäferwagen und darin Rebecca, Georges Tochter, die sie füttern und ihnen vorlesen musste. Es stand im Testament.
    Dann aber musste irgendwo ein Fehler passiert sein. Das Europa, von dem ihnen George erzählt hatte, war voller Apfelblüten, Kräuterwiesen und komischer langer Brote gewesen. Niemand hatte etwas von hupenden Autos, staubigen Landstraßen und sirrenden Stechmücken gesagt, von Schnee, Geisterschafen oder gar von Ziegen.
    Die Schafe gaben der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher