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Garou

Garou

Titel: Garou
Autoren: Leonie Swann
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in Wahrheit längst davongetrabt war auf die duftende Nachtwiese seiner Jugend. Othello beneidete ihn fast. Er selbst war noch immer hier, knietief im Schnee, während der Garou irgendwo dort im Morgengrauen auf sie lauerte.
     
    Es war wieder ein bisschen heller geworden. Die Schafe verschwanden hinter dem Heuschuppen, hinter der Futterkammer und hinter dem Schäferwagen, wo sie nicht zu sehen sein würden, wenn der Garou vom Schloss kam. Hoffentlich kam der Garou vom Schloss!
    Heathcliff versteckte sich nicht sofort wie die anderen, sondern trabte zögernd zu Othello hinüber. Nebel stieg aus dem Bach, und der Horizont wurde hell. Die Welt war so schön.
    »Hast du Angst?« Heathcliff musste es wissen.
    »Das ist nicht wichtig«, sagte Othello. »Es ist meine Herde. Das ist wichtig. Ein Leitwidder wird seine Herde gegen alles verteidigen. Alles. Selbst gegen den Himmel.«
    Heathcliffs Augen wurden groß. »Gegen den Himmel?«
    »Ich kannte einen Widder, der seine Herde gegen den Himmel verteidigt hat.« Othellos Stimme war weich und klar. »Gegen das Gewitter. Die Herde floh in den Wald, er aber blieb auf dem Hügel und hat das Gewitter angegriffen. Er kam nicht zurück.«
    Othello schwieg eine Weile. »Es ist nicht immer so wichtig, ob man Angst hat.«
    Der Nebel war golden geworden, der Horizont rosa wie eine Schafsschnauze. Es war ein schöner Moment.
    »Geh auf die Eiche!«, sagte Othello plötzlich. »Er wird nicht nach oben sehen. Schafe klettern nicht auf Bäume. Geh auf die Eiche, Heathcliff«
    »Ich bin ein Schaf«, sagte Heathcliff entschlossen. »Ich klettere nicht auf Bäume!«
    »Ich weiß«, sagte Othello. »Du wirst auch auf der Eiche ein Schaf sein.«
    Aber Heathcliff ging nicht auf die Eiche. Er traute sich nicht. Alles, was er in diesem Moment wollte, war, zwischen anderen Schafen zu sein. Möglichst vielen Schafen. Einer Herde.
     
    Und dann kam der Garou doch nicht vom Schloss, sondern aus dem Schrank. Heathcliff erinnerte sich plötzlich an den Traum, den er heute Nacht geträumt hatte. Der Traum war kein Traum gewesen, und Eric war doch nicht harmlos.
    Der Garou streckte sich und sah die Schafe an, wie sie sich nutzlos von der falschen Seite hinter Heuschuppen und Schäferwagen zusammenballten. Einen Moment lang, bevor die Angst sie überschwemmte, kamen sie sich einfach nur dumm vor.
    Der Garou starrte. Ein seltsamer Glanz lag in seinen Augen, wie Othello ihn von verrückten Zirkushunden kannte. Er war kein Wolf. Er war etwas ganz anderes. Othello dachte, dass die Idee, die die Menschen von einem Wolf hatten, etwas sehr viel Schlechteres sein musste als der Wolf selbst. Der Wolf damals im Zoo war schrecklich gewesen, aber gleichzeitig sehr lebendig.
    Der Wolf in dem Menschen hatte etwas Räudiges, Totes. Die Schafe blinzelten benommen zum Schrank hinüber, und Othello stellte sich zwischen den Garou und seine Herde. Ein Messer blitzte auf.
    Dann erinnerte sich Othello an den Plan. Weglocken. Der Schwarze scharrte die Hufe.
    Es gefiel ihm nicht, in diesem Moment von seiner Herde wegzulaufen und sie ungeschützt zurückzulassen. Was, wenn es doch Mehrwölfe gab?
    Kein Kampf ist besser als jeder Kampf mahnte eine Stimme aus seiner Vergangenheit. Eine graue, gute Stimme. Othello dachte an Melmoth im Wasser und rannte doch noch los.
    Vielleicht wollte er nicht wirklich rennen.
    Vielleicht war er zu schwarz.
    Vielleicht war er zu wütend.
    Jedenfalls folgte ihm der Garou nicht.
    Othello drehte in weitem Bogen um und galoppierte zurück, aber es war schon fast zu spät - der Garou war schon nah vor den benommenen Schafen am Heuschuppen, und er hatte ein Messer in der Hand. Das Messer war nicht lang, aber es sah scharf und gefährlich aus - wie ein einzelner Zahn.
    Dann stellte sich auf einmal Ritchfield vor seine Herde, Hörner und Entschlossenheit und Stolz. Ritchfield war zu alt, um noch ernsthaft zu rennen, aber er konnte vor seiner Herde stehen, mit gesenktem Kopf und einem silbernen Stern im Gehörn, und das tat er. Der Garou blinzelte irritiert und blieb stehen. Ritchfield fühlte sich jung und schwerelos, und er konnte das Meer riechen. Er äugte zur Seite, um zu sehen, ob vielleicht Melmoth neben ihm stand. Melmoth war immer neben ihm, wenn es wichtig war. Doch Melmoth war nicht da. Der Duft des Meeres verschwand, und Ritchfield roch auf einmal nur noch Schnee. Und dann sah er Melmoth doch noch, nicht neben ihm, sondern hinter dem Garou. Er stand nur da, mächtig und grau und sehr
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