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Garou

Garou

Titel: Garou
Autoren: Leonie Swann
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freundlich, und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ritchfield verstand. Er verstand ihn immer. Jetzt war nicht die richtige Zeit zu gehen. Der Weg zurück war noch nicht zu Ende.
    Ritchfield trat einige Schritte nach hinten, in die Herde hinein, und Melmoth nickte ihm zu, dann verwandelte er sich in einen Wirbel Schnee und war verschwunden.
    Der Garou trat noch näher. Es war der Moment vor dem Sprung, der Moment, an dem alles stillsteht.
    Der Jäger. Die Beute. Die Zeit.
    Und einer stand doch nicht still.
    Ein Schaf sprang aus dem Schutz der Herde nach vorn, dann galoppierte es direkt an der Nase des Garou vorbei. Davon.
    Um sein Leben.
    Um das Leben aller Schafe.
    Kein Wolf kann einem panisch fliehenden Schaf widerstehen, auch der Garou nicht.
    Der Garou wirbelte herum und rannte hinter Ramses her.
    Über den Hof am Graben entlang, unten glitzerndes Eis. Zwischen die Hecken. Finger in der Wolle, sie fassen … vergebens. Ecken, Hecken und wieder Hecken. Enge. Das Labyrinth!
    Hufe auf Eis, Hufe auf Schnee. Wolfsstiefel auf Schnee.
    Nebel. Atem. Leben. Stiefel auf Schnee.
    Ramses galoppierte panisch zwischen den Hecken hindurch. Warum war er losgerannt? Warum nur? Und warum in das vertrackte Labyrinth? Warumwarumwarum?
    Um die Ecke. Um die Ecke. Geradeaus. Spritzender Schnee. Folge dem linken Horn. Folge dem rechten Horn. Folge dem Geruch des Waldes. Um die Ecke.
    Halt.
    Ramses stemmte alle vier Hufe in den Boden, bremste vor einer grünen Wand. Die Stiefel des Wolfes waren jetzt sehr nah, und Ramses steckte in einem Gefängnis aus immergrünen Blättern und fühlte sich schwindelig. Er konnte nicht mehr atmen. Er konnte nicht mehr denken. Er senkte die Hörner. Als er den Atem des Wolfes hören konnte - einen entsetzlich ruhigen Atem -, preschte er los, ihm entgegen.
    Warumwarumwarum?
    Ramses und der Garou erreichten die Ecke gleichzeitig. Der Garou wich zur Seite - wie schnell er war, wie nah und schrecklich -, und sein Messer züngelte nach Ramses. Ramses rannte einfach. Rannte und rannte. Um viele Ecken. Über viel Schnee. Vorbei an den Klauen steinerner Raubtiere. Hinein in den Wald. Rennen.
    Der Wind sang in seinen Ohren. Die Müdigkeit war verschwunden.
    Rennen. Leben. Nichts war einfacher.
    Erst als sich immer mehr Bäume in seinen Weg stellten und sein Lauf mehr dem Zickzack eines panischen Hasen glich, merkte Ramses, dass das Rennen doch nicht so einfach war.
    Nicht mehr. Ein stechender Schmerz saß in einem seiner Hinterbeine und Kälte in seinen Lungen. Er blieb stehen - nur einen Augenblick - und prüfte die Luft.
    Der Wald war verwirrend, ein eisiges, würziges Wirrwarr von Witterungen. Von überall her. Moos und Schnee. Tausend fremde Tiere.
    Der Blutgeruch schockte Ramses. Ein böser, vertrauter Geruch.
    Sein eigenes Blut.
    Das Messer des Garou hatte tief in Ramses' Schenkel gebissen und rote Tropfen hervorgelockt. Rote Tropfen im Schnee.
    Eine Spur hatte sich an seine Fersen geheftet. Eine lange, gierige Zunge, ein Strick, der ihn an die Augen des Wolfs band. Ein Strick, gegen den Ramses kämpfen musste. Ein Strick, der ihn schwächte und verriet.
    Es war so früh. Das Licht würde noch einen ganzen Wintertag auf den Boden fallen und ihn an den Garou verraten. Den Garou, der durch das Unterholz brach, nicht weit von hier.
    Ramses atmete tief ein. Die Angst war überall um ihn, groß und schrecklich, schrecklicher noch als der Garou selbst. Ramses musste durch sie hindurchsehen. Hinter der Angst war etwas, das ihm helfen konnte.
    Kämpfen.
    Rennen allein war nicht mehr genug, nicht mit der roten Spur. Was Ramses brauchte, war ein Duellplatz, wo ein Schaf Anlauf nehmen konnte, Haken schlagen und den Himmel sehen. Ein Ort ohne Hinterhalt.
    Ramses galoppierte weiter. Bäume, Bäume, Bäume. Bäume und Schnee. Manchmal hörte er Schritte hinter sich, manchmal Rascheln und Knacken. Einmal Atem. Irgendwann wurde es still, und alles, was Ramses hören konnte, war sein eigenes Herz.
    Er blieb stehen und lauschte. Nichts. Der Boden unter seinen Füßen hatte sich verändert, war hohl und tückisch geworden, die Bäume hatten sich entfernt. Über ihm schwebte hell und weit ein morgengrauer Himmel. Ramses stand weiß auf der weißen Eisfläche eines Sees, mit wilden Augen und zwei Hörnern. Zum ersten Mal in seinem Leben dachte er an seine Hörner.
    Die rote Spur war ihm gefolgt.
    Das Eis flüsterte.
    Am Rande des Sees hockte der Garou, das Messer in der Hand, und starrte ihn verzückt an.
    Ramses blieb ruhig
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