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Garou

Garou

Titel: Garou
Autoren: Leonie Swann
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schlafendes Reh gesehen hat. So jagt er. Er ist kein echter Wolf Er ist zu langsam. Deswegen kann er Rehe nur fangen, wenn sie schlafen. Er gibt ihnen Futter mit Pulver, das sie schlafen lässt. Und dann verletzt er sie, damit sie nicht mehr so schnell laufen können. Er hat versucht, mich zu verletzen. Und erst dann kann er sie jagen! Und dann jagt er sie!«
    Die Schafe ließen vom Futtertrog ab. Sie fühlten sich - ein wenig benommen, vielleicht.
    »Aber wir sind keine Rehe!«, sagte Cordelia. »Heißt das, er jagt jetzt uns?«
    Niemand antwortete.
    »Aber die Menschen!«, blökte Cloud. »Mama. Die Menschen im Schloss. Sie werden auf uns aufpassen, nicht wahr? Irgendjemand!«
    »Ich glaube, wir müssen jetzt auf uns selbst aufpassen«, sagte Othello leise.
    »Heißt das: er kommt?«, fragte Ramses.
    »Er kommt!«, sagte Maple.
    Ramses nickte stumm, und auf einmal sah er nicht nur jung und ängstlich aus, sondern irgendwie auch entschlossen. »Wann?«, fragte Zora.
    »Sobald es hell ist«, sagte Maple. »Wenn er etwas sehen kann.«
    »Wir sollten uns verstecken!«, blökte Mopple und versuchte, sich dünner zu machen. »Wo?«, fragte Heide.
    »Hinter dem Heuschuppen!«, sagte Ramses. »Hinter dem Schäferwagen! Hinter der Futterkammer - wie vor dem Schießeisen!«
    »Er wird uns wittern«, sagte Maude mutlos.
    »Nein«, sagte Zora. »Nein, das wird er nicht.«
    Die Schafe sahen sie erstaunt an.
    »Er war hinter mir her«, erklärte Zora, »und ich bin gerannt, und immer wieder war er hinter mir her. Und dann bin ich stehen geblieben, und er kam nicht. Kam einfach nicht. Er hat mich nicht gefunden! Er hat mich nicht gefunden, weil er mich nicht wittern konnte. Nur hören und sehen, wenn ich mich bewege. Er ist kein echter Wolf. Er kann uns nicht riechen!«
    Miss Maple nickte. »Wir können es versuchen. Wenn er uns nicht sieht, geht er vielleicht wieder.« »Und wenn er uns sieht?«, fragte Heide. »Dann ... dann locke ich ihn weg!«, sagte Othello.
    Das Grau des Himmels wurde allmählich heller, und Othello trabte zur Wasserstelle, um mit einem kalten Trunk die Müdigkeit zu verscheuchen. Nebel kroch über den Boden. Das Schloss war still wie ein Stein. Genau genommen war es nur ein Stein. Ein hohler Stein. Nichts anderes.
    Othello wollte gerade seine Nase ins Wasser tauchen, als ihm das Schaf vom Grunde entgegenblickte. Es sah entschlossen aus. Und stark. Viel stärker, als Othello sich fühlte. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit dem Schaf vom Grunde Plätze zu tauschen. Das Schaf vom Grunde konnte die Herde gegen den Garou verteidigen, während er hier unter dem Wasser stehen würde, ganz still, ganz sicher. Es war nur ein Gedanke, und trotzdem...
    Konnte das Schaf vom Grunde überhaupt aus dem Wasser steigen? Konnten Schatten sich selbstständig machen? War der Garou vielleicht so etwas wie ein herrenloser Schatten? Ein Wesen, das vom Grunde emporgestiegen war und seinen Menschen gefressen hatte? Oder saß der Mensch noch immer irgendwo unter dem Wasserspiegel und traute sich nicht mehr heraus? Othello war sich sicher, dass die Menschen einen Menschen vom Grunde hatten und dass sie ihn nicht immer so richtig verstehen konnten.
    Der schwarze Widder blickte hinunter in das dunkle Wässer, und auf einmal war Melmoth neben dem Schaf vom Grunde aufgetaucht. Melmoth, sein Lehrer. Das Schaf, von dem Othello die wichtigsten Dinge in seinem Leben gelernt hatte. Wind und Freiheit. Kämpfen und Nicht-Kämpfen, an den richtigen Stellen. Melmoth schwieg und sah ihn nur an, doch Othello verstand, was er ihm sagen wollte. Keine Worte. Eher ein Gefühl für das, was wichtig war. Das Gefühl half, und Othello fühlte sich wacher.
    Othello nickte Melmoth zu, und Melmoth nickte zurück. Dann tauchte Othello entschlossen seine Nase ins Wasser und trank. Das Schaf vom Grunde verschwamm, und Othello fühlte sich besser. Er sah sich um. Neben ihm stand Sir Ritchfield, einen weichen, lämmerhaften Ausdruck in den Augen. Othello verstand, dass auch er Melmoth gesehen hatte.
    »Er fehlt mir!«, sagte Sir Ritchfield.
    Othello nickte. »Er fehlt mir auch.«
    »Eine Herde ist wie ein ... wie ein Lamm«, sagte Sir Ritchfield. »Man muss sie beschützen. Egal, was kommt. Man muss sie beschützen, weil sie da ist.«
    Othello schwieg.
    »Er hätte sie beschützt.«
    »Ich weiß.«
    »Der Abend beginnt, wenn die Nachtigall singt...«
    Othello blickte zu Ritchfield herüber. Obwohl der alte Widder noch neben ihm stand, wusste Othello, dass er
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