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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Autoren: Dennis Gastmann
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mir, man könnte ihn mit «Passionsspiele für Kinder» übersetzen, es geht jedoch um etwas völlig anderes. Mit der naiven Begeisterung eines Kleinkinds sollen wir eine halbe Stunde durch den Wald tollen, so als hätten wir noch nie einen Baum, einen Grashalm oder einen Pilz gesehen. Myriam schickt die feuchten Tiere nach links und die trockenen nach rechts. Und während ich noch den Sinn der infantilen Passionsspiele hinterfrage, rast Floyd schon mit dem Ruf der Indianer über den sandigen Geestboden. Die sizilianische Sumpfschildkrötenforscherin steckt sich Blätter ins lange Haar und schmiert ihr Gesicht mit Erde ein, die Weltreisende Nele hängt bis zum Hals in einem Fuchsbau und horcht, ob jemand zu Hause ist.
    Jetzt rächt sich, dass ich mit Pädagogen unterwegs bin. Sie nehmen mich als Versuchsobjekt, und auf jede meiner Fragen folgt eine Gegenfrage.
    «Gibt es hier Wildschweine?»
    «Glaubst du denn, dass es hier Wildschweine gibt?»
    «Kann man die Birkenblätter essen?»
    «Glaubst du denn, dass man sie essen kann?»
    «Wie baut man eigentlich eine Bärenfalle?»
    «Was glaubst du denn, wie man eine Bärenfalle baut?»
    Das macht mich rasend, und es kommt noch schlimmer. Die Sumpfschildkrötenforscherin möchte, dass ich einen Baum umarme. Sie hat von meinem Leben als stressgeplagter Journalist erfahren. Bitte nicht, denke ich mir. Herr im Himmel, warum müssen sich alle billigen Vorurteile eigentlich immer sofort bestätigen? Ich will Feuer machen und Hirsche ausnehmen, ich bin ein Mann! Stattdessen suche ich mir widerwillig eine Birke, die ich besonders anziehend finde, und umarme sie. Dann drücke ich sie fester. Und noch fester. Ich schließe die Augen, und je enger ich mich an den Stamm schmiege, desto mehr verliere ich die Kontrolle. Die Baumkrone schaukelt im Winterwind und wiegt mich sachte hin und her. Es klingt absurd, aber dieses Gefühl ist wirklich schön.
    «Siehst du!», sagt die Sumpfschildkröte. «Und wenn du dein Ohr an die Rinde legst, dann hörst du sogar die Baumsäfte fließen.» Ich bin angefixt und lausche tief in meine geliebte Birkenfreundin hinein. Doch leider höre ich etwas ganz anderes. Es klingt irgendwie metallisch, wie ein alter Röhrenfernseher, den man auf stumm geschaltet hat. Das gleiche Fiepen, das gleiche Rauschen, dieselbe unerträgliche Penetranz. Es begann vor einigen Monaten. Ich hatte ein großes Projekt für meinen Sender zu Ende gebracht, stand in der Küche und hörte plötzlich das Brutzeln in der Pfanne nicht mehr. Mein Gehör kam schnell zurück, aber der verdammte Tinnitus ist geblieben, und er nervt mich zu Tode. Er kommt immer dann, wenn es ganz ruhig ist, meistens nachts. Manchmal raubt er mir den Schlaf, manchmal das Gleichgewicht, aber vor allem hat er mir eins im Leben genommen, das unersetzbar ist: die Stille.
    Den Rest der Child-Passion-Zeit liege ich mit der feuchten Gruppe im feuchten Moos, blicke in die Baumwipfel und kaue Vogelmiere. Ich erwähne, dass ich noch nie im Moos gelegen habe. «Wo bist du denn groß geworden», fragt die Sumpfschildkröte, «in Berlin-Marzahn?» Während wir so dahindösen, wird Floyd von der trockenen Gruppe gefangen genommen. Etwas halbherzig rennen wir den Kidnappern hinterher und bewerfen sie mit Tannenzapfen, doch der arme Floyd ist verloren. Es gibt für ihn keine Hoffnung mehr.
    Wir sehen ihn erst abends im Tipi wieder. Nun sitzen die trockenen und die feuchten Tiere einträchtig am Lagerfeuer, und Myriam bittet uns, die Erlebnisse unseres aufregenden Tages pantomimisch darzustellen. Floyd rennt auf der Stelle, Nele kniet sich hin und streckt ihren Kopf aus dem Zelt, und die Sumpfschildkröte legt sich flach auf den Boden. Ich stelle mich steif in eine Ecke und spiele einen Baum, da kann man nicht viel falsch machen. Bald kullern die ersten Tränen – das liegt nicht an meiner schauspielerischen Leistung –, ein Teilnehmer sagt, er sei vom Gruppengefühl überwältigt. Auch ich werde sentimental. Mein Blick versinkt in den Flammen, und ich denke an den langen Weg, der noch vor mir liegt.
    Myriam möchte, dass wir einen kurzen Moment innehalten, und zieht einen Stock hervor, an dem mehrere bunte Federn hängen. Sie bietet uns ein «Indianer Council» an, das Lieblings-Psychospiel der Häuptlinge. Der Stab wandert von Hand zu Hand, und wer ihn hält, darf einmal ganz unverblümt erzählen, was in ihm vorgeht, was ihn plagt, was ihn sorgt, was ihn ankotzt. Alles kann, aber nichts muss. Einer klagt über
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